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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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die Gewalt und den Zufall.
    Es war kein Wunder, daß er, von planender Phantasie umfangen, von trunkenem Selbstgefühl erfüllt, Frau und Kind vergaß und für das äußere Getriebe ringsum keine Sinne mehr hatte. Dies alles war nur mehr Zeitverlust. Es sprachen wohl noch einige Redner aus dem Volk. Doch was gingen ihn ihre leeren ungelenken Worte an, da der große Entschluß endgültig gefaßt war? Es wurde immer die gleiche kampfanfeuernde Rede gehalten; für die Gegenpartei erhob sich keine Stimme mehr. Ter Haigasun ließ die Leute eine geraume Zeit gewähren, damit sich der tapfere Geist der Entscheidung in der Masse tiefer verankere und auch die Zaghaften und Bedenklichen mitreiße. Bevor aber noch die erste Ermüdung drohte, trat er vor, unterbrach den Redereigen und ordnete an, daß die Wahl der Führer vollzogen werde. Der Gemeindeschreiber von Yoghonoluk ging mit einem Korb herum und sammelte die Stimmzettel. Unverzüglich nahmen dann die Lehrer mit Hilfe Awakians im Hause die Zählung vor. Naturgemäß fielen die meisten Stimmen auf Ter Haigasun. Gleich hinter ihm kam Doktor Altouni, dann die sieben Muchtars und drei Dorfpriester mit den Stimmen ihrer Gemeinden. Dann folgten in einem gewissen Abstand Apotheker Krikor und einige Lehrer, darunter natürlich Schatakhian und Oskanian. Gabriel Bagradian erhielt ungefähr ebensoviel Stimmen wie Pastor Aram Tomasian. Von unbeamteten Dorfbürgern waren es der alte Tomasian und Tschausch Nurhan, der längerdienende Unteroffizier, die in den Führerrat entsandt wurden. Auch eine Frau, Mairik Antaram, erhielt eine große Anzahl von Stimmen, was wahrlich hierzulande eine Neuerung war. Sie lehnte aber die Wahl mit Entschiedenheit ab. Lehrer Schatakhian verlas das Ergebnis. Die Gewählten zogen sich daraufhin in das Haus zurück, um ihre Körperschaft zu konstituieren. Gabriel hatte durch Kristaphor und Missak im großen Selamlik für die Sitzung alles Nötige vorbereiten lassen, einen Imbiß, Wein und Kaffee. Die Menge – bis auf jene Mütter, die für kleine Kinder daheim zu sorgen hatten – blieb auf dem Platz und lagerte sich weithin in dem großen Garten. Man schickte nach Yoghonoluk um Eßwaren. Der Hausherr ließ Wasser, Wein, Früchte und Tabak verteilen. Bald stieg mit dem allgemeinen Geschwätz der Rauch von Zigaretten und gemächlichen Tschibuks in die Abendluft, als wäre nichts geschehen. Die Anhänger Pastor Nokhudians brachen mit ihrem Führer auf, um nach Bitias heimzukehren. Dies war ein schweigsames und trauriges Sich-Hinwegstehlen. Einige jüngere Leute aus dieser Schar kehrten am Garten-Ausgang wieder um und gesellten sich zu dem großen lagernden Volk, dessen Lebenslust nach Wochen der Betäubung zum erstenmal wieder zu erwachen schien. Jetzt, in der knappen Frist zwischen dem Gewohnten und dem namenlosen Wagnis, erfüllte ein unbegreifliches Behagen alle Seelen. Warum? Weil vor ihnen nicht mehr das Leiden allein lag, sondern in und über dem Leiden die Tat.
     
    Die Nacht des Musa Dagh saugte schnell die Julidämmerung auf. Der waagrechte Halbmond stieß sich von den Gipfelschroffen des Amanus im Osten ab und fuhr frei in den Raum hinaus. Das Tor der Villa Bagradian stand weit offen. Neugierige gingen ungehindert ein und aus. Im großen Empfangszimmer hatten sich die Führer des Volkes versammelt. Dieser Führerrat, eine Runde von etwa zwanzig Männern, machte zunächst selbst einen sehr ratlosen Eindruck. Die fremden Dorfschulzen, Priester und Lehrer, die zum erstenmal in diesem Hause waren, saßen und standen wortlos umher. Manchem unter ihnen mochte jetzt erst die ganze Tollheit bewußt werden, in die sie durch den unerwarteten Verlauf der großen Versammlung gedrängt worden waren. Gabriel Bagradian spürte sofort die brenzlige Luft der Mutlosigkeit, die von einem Teil dieser Gemeinschaft ausging. Es durfte nicht geduldet werden, daß die Lauen »zur Besinnung« kamen, daß grundsätzliche Wenn und Aber laut wurden. Das Volk hatte seine rechtmäßige Entscheidung getroffen, ein Schwanken gab es nicht mehr, die Glut des Verteidigungswillens mußte zur steilen Flamme angefacht werden. Es war Bagradians Pflicht, als Herr des Hauses, dem formlosen Zusammenstehn dieser erkalteten Männer ein Ende zu setzen, die Beratung in Gang zu bringen und für fruchtbare Arbeit zu sorgen. Die Überlegenheit seiner Erziehung und westlichen Erfahrung hatte in Kraft zu treten. Er tat das einzige, was zu tun war. Mit feierlicher Stimme wandte er sich an Ter

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