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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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einem Menschen oder an einer Gefahr vorbei mit einem langen Satz in die Freiheit schießen. Jetzt duckten sich vielleicht alle Fluchttriebe in Juliette zum Sprung. Doch kaum begann Gabriel zu sprechen, verlor sich die lauernde Spannung ihrer Miene, sie wurde wieder unsicher, gekränkt und tückisch.
    »Gonzague Maris wird uns heute oder morgen verlassen«, sagte Bagradian mit dem unwiderruflichen Ton eines Befehlshabers. »Er besitzt einen nordamerikanischen Paß, das ist unter diesen Umständen ein unschätzbares Glück. Sie werden sich gewiß nicht weigern, Maris, meine Frau und Stephan in Sicherheit zu bringen. Ihr nehmt den Jagdwagen. Es ist Sommer, und die Talwege sind immerhin fahrbar. Überdies bekommt ihr Reserveräder und alle vier Pferde mit. Kristaphor begleitet euch neben dem Kutscher. Auch diese beiden mögen sich in euren Diensten retten. Über Sanderan und El-Maghara sind es nur fünf bis sechs Stunden nach Arsus; ich rechne damit, daß ihr den größten Teil dieses Weges im Schritt fahren müßt. Die fünfzehn englischen Meilen an der Küste von Arsus nach Alexandrette sind eine Kleinigkeit, weil ihr stundenlang über sandigen Strand traben könnt. In Arsus ist wahrscheinlich ein kleiner Militärposten stationiert. Für Maris wird es nicht schwer sein, den Onbaschi dort mit seinem Paß in Schreck zu versetzen …«
    Verwalter Kristaphor war eingetreten, um sich nach den Befehlen der Herrin zu erkundigen. Gabriel wandte sich scharf an ihn:
    »Ist es möglich, mit dem Wagen in zehn Stunden über Arsus nach Alexandrette zu kommen, Kristaphor?«
    Der Verwalter riß betroffen die Augen auf:
    »Effendi, das hängt von den Türken ab.«
    Bagradians Stimme wurde noch schärfer:
    »Danach frage ich dich nicht, Kristaphor. Ich frage dich vielmehr: Getraust du dich, die Hanum, meinen Sohn und diesen amerikanischen Herrn hier nach Alexandrette zu bringen?«
    Die Stirn des Verwalters, der, obgleich erst vierzig Jahre, wie ein alter Mann aussah, begann zu schwitzen. Es war nicht klar, ob ihn die Furcht vor dem Wagnis oder die plötzliche Aussicht auf die eigene Rettung in solche Erregung versetzte. Seine Blicke wanderten zwischen Bagradian und Gonzague hin und her. Endlich zuckte es wie der Ansatz einer wilden Freude über seine Miene. Er unterdrückte aber diese Regung sofort, entweder aus Ehrfurcht oder um sich nicht zu verraten:
    »Ich getraue mich, Effendi! Wenn der Herr einen Paß hat, werden uns die Saptiehs nichts tun können …«
    Nach dieser Erklärung schickte Gabriel den Kristaphor in die Küche, damit er dort für alle ein sehr ausgiebiges Frühstück zubereiten lasse. Dann setzte er Maris seine Aufgabe weiter auseinander: Leider gebe es in Alexandrette keinen amerikanischen Konsul, sondern nur einen deutschen und einen österreichischungarischen Vizekonsul. Er habe schon vor längerer Zeit über diese beiden Männer Erkundigungen eingezogen. Der Deutsche heiße Hoffmann, der Österreicher Belfante, beide seien wohlgesinnte europäische Kaufleute, von denen man jede Hilfe erwarten könne. Da es sich aber immerhin um Verbündete der Türken handle, müsse man die größte Vorsicht walten lassen:
    »Ihr werdet irgend eine Geschichte erfinden … Juliette ist Schweizerin und hat bei einem Reiseunfall ihren Paß verloren … Die Vizekonsuln müssen für euch beim Platzkommandanten einen Reiseschein für die Eisenbahn erwirken … Die Strecke nach Toprak Kaleh wird in den nächsten Tagen eröffnet … Hoffmann und Belfante werden ja wissen, ob der Kommandant bestechlich ist … Dann wäre alles gut!«
    All diese Fluchtweisungen hatte Gabriel in schlaflosen Nächten hundertmal erwogen, verworfen, ausgewechselt und wieder aufgenommen. Es gab ihrer mehrere Varianten, eine in der Richtung Aleppo, die andre mit dem Ziele Beirût. Dennoch klangen seine abgehackten Sätze wie unmittelbare Erfindungen. Juliette starrte ihn an, als fasse sie keines seiner Worte auf:
    »Sie müssen sich eine gute Geschichte ausdenken, Maris! … Es wird nicht einfach sein, den Reiseunfall und Paßverlust glaubwürdig zu machen … Doch das ist ja nicht die Hauptsache … Juliette … Die Hauptsache ist, daß du als unzweifelhafte Europäerin nicht in den Verdacht kommen wirst, zu uns zu gehören. Und darin liegt schon die Rettung … Man wird dich für eine Abenteuerin und schlimmstenfalls für eine politische Agentin halten … Diese Gefahren sind unbedingt da … Du wirst aus diesen Gründen Unannehmlichkeiten und

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