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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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genommen und starrte vor sich hin. Mairik Antaram, von den Strapazen dieser Nacht am wenigsten erschöpft, lauschte an der offenen Tür dem Stimmengewirr der Beratung. Doch auch ein Mann war im Zimmer anwesend. Monsieur Gonzague Maris hatte während dieser langen Nacht den Frauen Gesellschaft geleistet. Obgleich ihn jetzt niemand beachtete, schien er doch der einzige zu sein, der nicht mit sich allein war. Sein präziser Scheitel glänzte, von der Nachtwache und den Ereignissen unberührt. Die aufmerksamen, ja gespannten Sammetaugen wanderten unter dem stumpfen Winkel der Brauen zwischen den Frauen hin und her. Er schien von den morgenfahlen Gesichtern jeden Wunsch ablesen zu wollen, um ihn sogleich ritterlich zu erfüllen.
    Gabriel machte zwei Schritte auf Juliette zu, blieb aber stehn und sah Gonzague an:
    »Ist es bestimmt wahr, daß Sie einen amerikanischen Paß besitzen?« Ein heiterer und leicht verächtlicher Zug schlüpfte um den Mund des jungen Griechen:
    »Wünschen Sie den Paß zu sehn, mein Herr? Vielleicht auch meine journalistische Legitimation?«
    Er griff mit spitz nachlässigen Fingern in seine Brusttasche. Gabriel bemerkte es nicht mehr. Er hatte Juliettens Hand erfaßt. Diese Hand war nicht nur kalt, sie war entseelt, oder besser, scheintot. Umso lebendiger aber spielten die Augen. Es war ein Gehen und Kommen in ihnen, Flut und Ebbe, wie immer in Zeiten des Konflikts. Auch spannte sie die Nasenflügel, ein Zeichen des Widerstandes, das Gabriel gut kannte. Das erstemal seit vierundzwanzig Stunden senkte sich jetzt eine Wolke der Ermattung über ihn. Er schwankte. Leer und hohl war es in seinem Innern. Unablässig forschten sie einer in des andern Augen, Mann und Weib. Wo war Gabriels Frau? Er spürte ihre Hand noch immer in der seinen wie ein Ding aus abweisendem Porzellan, aber sie selbst war ihm entglitten: wieviele Tagemärsche und Seereisen weit? Doch nicht nur von ihr zu ihm vergrößerte sich die raumfressende Entfernung sekündlich, sondern ebenso von ihm zu ihr. Auch er wurde sausend davongetragen. Hier stand Juliettens großer schöner Leib, so nah, so ganz er selbst. Tausendmal hatte Gabriel ihn umarmt. Jede Stelle mußte die Erinnerung seiner Küsse tragen, der lange Hals, die Schultern, die Brüste, Hüften, Schenkel und Knie, ja die Zehen der Füße. Dieser Leib hatte Stephan getragen, hatte für die Zukunft des Bagradian-Bluts gelitten. Und jetzt? Er vermochte ihn nicht zu erkennen. Die Vorstellung seiner Nacktheit war ihm verloren gegangen. Wie wenn einer seinen eigenen Namen vergißt, war das. Doch nicht genug damit, daß dort nur eine französische Dame stand, mit der man einst ein gemeinsames Leben geführt hatte, – diese Dame war eine Feindin, sie hielt es mit der anderen Seite, auch sie saß im Rate der Ausrottung, obgleich sie eine armenische Mutter war. Gabriel fühlte etwas Großes, Rundes in seiner Kehle aufsteigen, ohne es recht zu merken. Erst im letzten Nu fing er das Würgende ab. Es verwandelte sich in ein Aufstöhnen:
    »Nein … das ist nicht möglich … Juliette …«
    Sie neigte den Kopf tückisch zur Seite:
    »Was ist nicht möglich? … Wie meinst du das?«
    Er glotzte aus dem Fenster ins Farbenjauchzen. Nichts konnte er unterscheiden. Da er seit so vielen Stunden unausgesetzt armenische Reden hatte halten müssen, zog sich die französische Sprache in seinem Bewußtsein beleidigt zurück. Er begann mit ungewohnt hartem Akzent zu stammeln, wodurch Juliette noch mehr zu vereisen schien:
    »Ich meine … Du hast das Recht … Ich glaube … Du darfst nicht hereingerissen werden … Wie kommst du dazu? … Erinnere dich an unser Gespräch, damals … Ich kann es nicht dulden … Du mußt fort … Du und Stephan …«
    Sie schien ihre Worte genau zu wägen:
    »Ich erinnere mich sehr deutlich an dieses Gespräch … So unerhört es auch ist, ich bin eurem Schicksal mitverfallen … So habe ich es damals gesagt …« Nie hatte sie solche Worte gebraucht, aber dies war gleichgültig. Sie warf einen vorwurfsdunklen Blick auf Iskuhi und Howsannah, als erkenne sie in ihnen die Schuldigen an ihrer Mithaftung. Gabriel strich sich zweimal mit der Hand über die Augen, dann war er wieder der Mann und Führer der vergangenen Nacht:
    »Es gibt einen Ausweg für dich und Stephan … Nicht leicht und gefahrlos … Du aber bist sehr willensstark, Juliette.« In ihre Augen geriet ein scharfer prüfender Ausdruck. Aufgestörte Tiere blicken so drein, ehe sie an

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