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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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lag. Der Kirchendiener ging mit der Laterne voraus, Ter Haigasun folgte mit Tschausch Nurhan und dem Dorfpriester von Haibibli. Die beiden Totengräber beschlossen den Aufzug. Die Gewehre waren, dank Nurhans, des Waffenmeisters Fürsorge, in ausgemauerten Grabstellen zur Ruhe gelegt. Sie harrten in luftdicht abgeschlossenen Särgen, in Stroh gebettet, mit Lappen umwickelt, ihrer mutigen Auferstehung. Tschausch Nurhan hatte sie erst vor vier Wochen nächtlicherweile bei Fackelschein einer summarischen Besichtigung unterzogen und in bester Ordnung gefunden. Kaum einer der Verschlüsse war von Rost versehrt. Auch die Munition hatte nicht im mindesten gelitten. In der heutigen Nacht wurden die schweren Kisten, fünfzehn an der Zahl, ihren Gräbern für immer entrissen. Es war eine saure Arbeit. Da nur wenige Arme zur Verfügung waren, legte auch Ter Haigasun, der seine Kutte abgeworfen hatte, kräftig mit Hand an. Später wurden ein paar von den starken zottigen Eseln des Landes aus den Dörfern geholt, bis schließlich gegen Morgen unter Tschausch Nurhans Führung eine geheimnisvolle Karawane durch die toten Ortschaften Azir und Bitias sich auf den Bergpaß im Norden hinbewegte.
    Eine Stunde vor Sonnenaufgang erst kehrte Ter Haigasun in den Selamlik der Villa Bagradian zurück. Der Garten sah aus wie ein großes Schlachtfeld, übersät mit hingestreckten Körpern. Nicht einmal die Leute von Yoghonoluk waren nach Hause gegangen. Wie ein Feldherr durch die Reihen der Toten schreitet, so mußte Ter Haigasun über die regungslosen Schläfer steigen.
    Die Männer der einzelnen Ausschüsse hatten, durch Bagradians Energie ständig vorwärtsgehetzt, entsprechende Arbeit geleistet. In groben Umrissen standen die Kampf- und Lebensbedingungen fest. Schon waren die Namen der Kriegsmannschaften ausgeschrieben, die Mengen und Sorten der verfügbaren Nahrungsmittel annähernd berechnet. Ferner hatte man den Bau einer Laubhüttenstadt, die Errichtung eines Lazarettschuppens und einer größeren Regierungsbaracke vorgesehen. Nach Ter Haigasuns Rückkehr trat der große Rat noch einmal zusammen. Gabriel legte dem Volksoberhaupt die gefaßten Beschlüsse in kurzen Worten vor. Es war ihm gelungen, fast alle seine Ideen mit der tatkräftigen Unterstützung Aram Tomasians durchzusetzen. Ter Haigasun bestätigte sie mit halbgeschlossenen Augen und abwesenden Zügen, als glaube er nicht daran, daß sich das neue Leben in Beschlüsse fangen lasse. Die Kerzen und die Menschen waren schon tief herabgebrannt. Und doch zeigten ihre Augen noch immer mehr Erregung als Ermüdung. Als der göttliche Tag aufzublinzeln begann, verfiel alles in ein tiefes Schweigen. Die Männer sahen zu den Fenstern hinaus, in das zarte Licht, in die Morgenknospe, die sich Blatt um Blatt sichtbar entfaltete. Sonderbar erweitert funkelten die Pupillen. In dem übernächtigten Zimmer war kein anderer Laut zu hören als das Bleistiftgekritzel Awakians und des Gemeindeschreibers, die über die wichtigsten Entschließungen ein Protokoll aufgenommen hatten. Als schon das volle Sonnengold im Zimmer lag, machte der Hausherr der stummen Träumerei ein Ende:
    »Ich glaube, wir haben in dieser Nacht unsre Pflicht getan und nichts ist vergessen worden …«
    »Nein! Eines ist vergessen worden, und zwar das Notwendigste!«
    Ter Haigasun blieb bei diesen Worten sitzen; der volle Klang seiner Stimme rief diejenigen zurück, die sich schon erhoben hatten. Der Priester schlug einen großen Blick auf. Jede Silbe betonte er:
    »Der Altar!«
    Dann fügte er mit gleichmütiger Sachlichkeit hinzu, daß in der Mitte der neuen Ansiedlung ein großer Altar aus Holz zu errichten sei, als heilige Stätte der Gottesdienste und Gebete.
     
    Um fünf Uhr – die Sonne stand schon hoch – betrat Gabriel das Wohnzimmer Juliettens im Oberstock. Er fand in dem Raum eine Anzahl von Menschen versammelt, die hier mit Madame Bagradian die Nacht durchwacht hatten. Stephan war trotz aller Bitten und Befehle seiner Mutter nicht zu Bette gegangen. Jetzt lag er auf dem Diwan, im Schlaf zusammengesunken. Juliette hatte über seinen Körper eine Decke gebreitet. Sie selbst lehnte am offenen Fenster, der Gesellschaft den Rücken kehrend. Jeder einzelne in diesem hellen Raum machte den Eindruck, als ob er ganz allein mit sich selbst sei. Iskuhi saß steif neben dem schlafenden Knaben. Howsannah, Pastor Tomasians Frau, die von Angst getrieben gegen Morgen ins Haus gekommen war, hatte auf einem Lehnstuhl Platz

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