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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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die Trennung drohe. Er warf die Decke ab, er stürzte zum Vater hin, er klammerte sich an ihn fest:
    »Nein, nein … Papa … Du darfst uns nicht fortschicken. Ich will bei dir bleiben … Bei dir bleiben …«
    Was sah aus den mandelförmigen Augen des Sohnes den Vater an? Nicht mehr ein Kind, dessen Leben man zu bestimmen wagt, sondern ein voller Mensch, von Willen und Blut gelenkt, ein fertig durchgebildetes Schicksal, an dem sich nicht kneten ließ. Er ist in diesen Tagen so groß und reif geworden. Diese Feststellung aber schöpfte nicht aus, was ihm aus Stephans Augen entgegenschlug. Schwach wehrte er ab:
    »Das, was kommt, Stephan, das ist kein Kinderspiel …«
    Der Angstschrei des Jungen verwandelte sich in immer trotzigere Forderung:
    »Ich will bei dir bleiben, Papa … Ich fahre nicht fort!«
    Ich, ich ich?! Juliette packte zornige Eifersucht. Ah, diese beiden Armenier! Wie sie zusammenhalten! Sie selbst war gar nicht mehr da! Ihr gehörte das Kind ebenso wie ihm. Sie wollte es nicht verlieren. Wenn sie aber in diesem Augenblick ihren Anspruch nicht verteidigte, so verlor sie Stephan. Sie tat einen entschlossenen, ja fast einen wilden Schritt auf Vater und Sohn zu. Sie faßte Stephans Hand, um ihn zu sich zu ziehn. Gabriel verstand nur, daß Juliette kam. ›Und das alles mutest du mir wirklich zu?‹ Aus dieser bösen Frage hatte noch Unentschlossenheit gelauert. Der starke Schritt aber war für Gabriel der Schritt der Entscheidung. Er zog Frau und Kind in seine Umarmung:
    »Möge Jesus Christus uns helfen! Vielleicht ist es besser so.« Während er sich mit diesen Worten beruhigen wollte, erfüllte ihn ein dunkles Entsetzen, als hätte der angerufene Heiland in derselben Sekunde die Tür vor Juliette und Stephan zugeschlagen. Ehe die Umarmung noch zu wirklichem Leben kam, ließ Gabriel die Arme sinken, wandte sich ab und ging. Auf der Schwelle aber blieb er noch einmal stehen:
    »Es ist selbstverständlich, Maris, daß Ihnen für Ihre Reise eines meiner Pferde zur Verfügung steht.«
    Gonzague vertiefte sein aufmerksames Lächeln:
    »Ich würde Ihre große Güte dankbar annehmen, wenn ich nicht einen anderen Wunsch hätte. Ich bitte Sie um die Erlaubnis, an Ihrem Leben oben auf dem Musa Dagh teilnehmen zu dürfen. Mit Apotheker Krikor habe ich schon gesprochen. Er hat den Priester Ter Haigasun meinetwegen gefragt und keine ablehnende Antwort bekommen …«
    Bagradian überlegte eine kleine Weile:
    »Sie sind sich doch hoffentlich im klaren darüber, daß Ihnen nachher der schönste amerikanische Paß nichts helfen wird.«
    »Ich lebe nun schon so lange hier, Gabriel Bagradian, daß es mir nicht leicht fiele, Sie alle zu verlassen. Und dann habe ich auch meinen Nebenzweck als Journalist. Eine Gelegenheit wie diese kommt für einen Berichterstatter kein zweites Mal.«
    Etwas in Gonzagues Wesen machte auf Bagradian jetzt einen feindseligen, ja abstoßenden Eindruck. Er suchte nach einem Argument, um den Wunsch des jungen Menschen zurückzuweisen:
    »Es fragt sich nur, ob Sie dann auch noch die Gelegenheit haben werden, Ihre Berichte zu verwenden.«
    Gonzague antwortete nicht mehr Gabriel allein, sondern sprach nun zu allen Menschen, die sich im Zimmer befanden:
    »Ich habe mit meinem Ahnungsvermögen im Leben sehr gute Erfahrungen gemacht. Und diese Ahnung sagt mir diesmal ganz stark, daß die Sache für Sie alle gut ausgehen wird, Gabriel Bagradian. Das ist zwar nur ein Gefühl. Aber auf derartige Gefühle verlasse ich mich.«
    Seine gespannten Sammetblicke gingen von Howsannah zu Iskuhi, von Iskuhi zu Juliette, auf deren Gesicht sie haften blieben. Und die Augen Gonzagues schienen Madame Bagradian zu fragen, ob sie seine Gründe nicht überzeugend genug finde.

Siebentes Kapitel Das Begräbnis der Glocken
    Zwei Tage und zwei Nächte blieb Gabriel Bagradian auf dem Damlajik. Noch am ersten Abend sandte er Botschaft an Juliette, daß sie ihn nicht erwarten möge. Mehrere Ursachen waren es, die in zwangen, ohne Unterbrechung so lange auf dem Bergrücken zu verweilen. Der Damlajik war auf einmal nicht mehr die trotz aller rauhen Stellen idyllische Alpe, die Gabriel von seinen träumerischen und später von seinen strategischen Streifzügen her kannte. Er zeigte ihm zum erstenmal sein wahres, sein nacktes Gesicht. Alles auf dieser Welt, nicht nur der Mensch, zeigt erst dann sein wahres Gesicht, wenn es in Anspruch genommen wird. So auch der Damlajik. Der Abglanz des Paradieses, das Lächeln

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