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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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quellbelebter Einsamkeiten war aus seinen durchfurchten und schroffgewordenen Zügen verschwunden. Der Verteidigungsbezirk, den Bagradian gewählt hatte, umfaßte eine Bodenfläche von einigen Quadratkilometern. Diese Fläche war, bis auf die ziemlich plane »Stadtmulde«, ein beschwerliches Auf und Ab von Hügeln und Tälern, Kuppen und Schluchten, das sich gewaltig fühlbar machte, wenn man mehrmals am Tage die verschiedensten Punkte aufzusuchen hatte. Gabriel wollte die Kraft- und Zeitverschwendung eines nicht unbedingt notwendigen Abstiegs in das Tal vermeiden. Dennoch fühlte er eine körperliche Leistungsfähigkeit wie noch nie im Leben. Auch sein Körper zeigte erst jetzt, da er rücksichtslos in Anspruch genommen wurde, was er war und was er vermochte. Dagegen gehalten erschienen ihm die Kriegswochen, die er an der Balkanfront erlebt hatte, trüb und schlaff. Damals war man menschlicher Schlamm gewesen, der durch irgendwelche Naturgewalten unter Todesgefahr entweder vorgewälzt wurde, oder sich ohne eigenen Antrieb unter Todesgefahr rückwärts ergoß. – In den letzten Jahren hatte Gabriel oftmals an Herzschwankungen und Magenbeschwerden gelitten. Diese Anfälle eines verzärtelten Körperbewußtseins waren jetzt vom Hauche der Notwendigkeit wie fortgeblasen. Er wußte nicht mehr, daß er ein Herz und einen Magen hatte, er beachtete es gar nicht, daß ihm drei Stunden Schlaf auf und unter einer Decke völlig genügten, daß ein Brot und irgend eine Konserve ihn für den ganzen Tag sättigten. Wenn er darüber auch nicht viel nachdachte, so erfüllte Gabriel dieser Selbstbeweis seiner Kräfte doch mit glücklichem Stolz. Es war der Stolz, der unsere Materie immer nur dann durchglüht, wenn der Geist ihr eine Niederlage bereitet hat.
    Wichtiger jedoch erwies sich ein anderer Umstand. Der größte Teil der zum Kampfe bestimmten Männer hatte schon auf dem Berge Quartier bezogen, überdies auch eine kleine Schar von kräftigen Frauen und ein Rudel Halbwüchsiger, die zur Arbeit verwendet wurden. Alles andere war aus kluger Vorsicht im Tale zurückgelassen worden. Dort sollte das alltägliche Leben zum Scheine ruhig weiterlaufen, damit die Entvölkerung der Dörfer nicht ruchbar werde. Überdies hatten die Dorfbewohner die Aufgabe übernommen, allnächtlich zu heimlicher Stunde soviel Vorräte wie nur möglich den Berg hinaufzuschleppen. Nicht alles ließ sich den Packeseln auflasten. Die langen Bretter und Balken aus der Werkstatt Vater Tomasians zum Beispiel mußten die Gesellen auf ihren eigenen Schultern tragen. Dieses Holz war zum Bau des Altars, der Regierungsbaracke und des Lazarettschuppens bestimmt. Von den erwählten Führern blieben die Jüngeren, vor allem Pastor Aram Tomasian und die Lehrer, mit Gabriel auf dem Damlajik, während der große Rat unter Ter Haigasuns Leitung im Tale seines Amtes waltete.
    Fünfhundert etwa war die Zahl der Männer, die während jener Tage auf dem Berge lagerten. Es galt, in dieser Stoß- und Elitetruppe nicht nur den Arbeitseifer bis zur Erschöpfung zu steigern, sondern auch den leidenschaftlichen Kampfgeist, der schon in ihr lebte, immer höher zu schüren. Wenn man sich am Abend mit zerschlagenen Gliedern um die Lagerfeuer in der Stadtmulde versammelte, dann setzte Pastor Aram in längerer Rede, die mit einer Predigt recht wenig zu tun hatte, den Sinn des kriegerischen Unternehmens auseinander; er verkündigte das göttliche Recht der Selbstverteidigung, er sprach von dem unbegreiflichen Blutpfad des armenischen Volkes seit Urzeiten und von dem beispielgebenden Wert dieses Wagnisses, das vielleicht die ganze Nation zum Widerstand emporreißen und damit retten werde. Dann schilderte er die Austreibung in allen ihren Einzelheiten, in solchen, die er selbst gesehen, und in solchen, die er durch Berichte kannte. Er stellte sie als das unwiderrufliche Ende für die Fünftausend des armenischen Tales hin und ließ mit derselben Bestimmtheit keinen Zweifel darüber aufkommen, daß die große Tat, die sie alle hier vereine, zu Sieg und Freiheit führen werde. Wie dieser Sieg und diese Freiheit beschaffen sein würden, darüber freilich ließ er nichts verlauten. Es fragte auch niemand danach. Nicht die Vorstellung hinter den großen Worten, sondern ihr bloßer Klang genügte für die jungen Leute als Anfeuerung. Manchmal nahm Gabriel Bagradian dem Pastor die Mühe des Redens ab. Im Gegensatz zu Aram Tomasian, vermied er die großen Worte eher und mahnte, keine Sekunde der

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