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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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vielleicht sogar Leiden erdulden müssen … Doch diese Leiden kommen, an unseren gemessen, kaum in Betracht … Ununterbrochen mußt du dein großes Ziel vor Augen haben: Fort von hier! Fort von diesen Gottverfluchten, unter die ich unschuldig geraten bin!«
    Bei diesen Worten, die er laut hervorstieß, verlor Gabriels Gesicht seine zusammengekrampfte Fassung. Juliette bog ein wenig den Oberkörper zurück, als deute sie mit dieser unwillkürlichen Gebärde die Absicht an, den Wunsch ihres Gatten zu erfüllen. Gonzague Maris machte ein leises Schrittchen auf das Ehepaar zu. Vielleicht wollte er damit zum Ausdruck bringen, daß er sich bereit halte, den Entschlüssen aber durch seine Haltung nicht vorgreifen möchte. Alle andern schienen ihre starre Leblosigkeit zu übertreiben, um das Störende ihrer Zeugenschaft herabzumindern. Sogleich fand Gabriel seine Selbstbeherrschung wieder:
    »Es verkehren zwar nur mehr militärische Garnituren … Ihr müßt die Eisenbahnoffiziere auf jedem Streckenteil bestechen … Das sind zumeist alte Leute, die in früheren Formen leben und mit Ittihad nichts zu tun haben … Wenn ihr einmal im Zug sitzet, ist schon viel gewonnen … Die Strapazen werden schrecklich sein … Doch jede Meile näher zu Stambul verbessert die Lage … Und ihr werdet nach Stambul kommen, wenn es auch wochenlang dauert … Juliette, dort gehst du sofort zu Mr.Morgenthau … Du erinnerst dich noch an ihn … Der amerikanische Botschafter …«
    Gabriel zog einen feierlich versiegelten Brief aus der Tasche. Auch diesen, sein Testament, hielt er schon seit Wochen in Bereitschaft, ohne daß Juliette davon wußte. Wortlos reichte er ihn hin. Sie aber nahm langsam die Hände zurück und verbarg sie hinterm Rücken. Gabriel deutete mit einer leichten Kopfbewegung auf den Musa Dagh im Fenster, den die mächtige Morgensonne eingeschmolzen zu haben schien:
    »Ich muß dort hinauf … Die Arbeit beginnt … Ich glaube kaum, daß ich heute noch zurückkommen werde …«
    Die ausgestreckte Hand mit dem versiegelten Brief sank herab. Was für Tränen sind das? Und Juliette hält sie nicht zurück? staunte Gabriel. Weint sie um sich, um mich? Ist das der Abschied? Er spürte ihre Qual, erkannte sie aber nicht. Flüchtig sah er die andern an, die Schweigenden, die noch immer in sich zurückgezogen atmeten, um die Entscheidung nicht zu verwirren. Gabriel sehnte sich nach Juliette, die nur einen Schritt weit von ihm stand. Er sprach deutlich und eindringlich wie einer, der sich durch das Telephon über trennende Länder hinweg, einem geliebten Wesen offenbaren muß:
    »Ich habe gewußt, daß es kommen wird, Juliette … Und doch hab ich nicht gewußt, daß es s o kommen wird … zwischen uns …«
    Ihre Gegenworte klangen dunkel, aus der Tiefe geholt, böse, und vom Schluchzen nicht zerrissen:
    »Und das alles mutest du mir wirklich zu!?«
    Wie lange Stephan schon wach war, wie viel er von diesem Gespräch seiner Eltern vernommen und begriffen hatte, das ahnte niemand. Nur Iskuhi stand plötzlich erschrocken auf. Juliette wußte und hatte sich oft darüber gewundert, daß zwischen Gabriel und dem Knaben ein ebenso tiefes wie scheues Verhältnis herrschte. Stephan, der sonst Überlaute und Leidenschaftliche, war in Gabriels Gegenwart zumeist stumm, doch auch Gabriel benahm sich Stephan gegenüber in auffälliger Weise verschlossen, ernst und wortkarg. Das lange Leben in Europa hatte in den Seelen der beiden Bagradians Asiens Leben zwar gedämpft, nicht aber erstickt. (In den Häusern der sieben Dörfer küßten die Söhne, so alt sie auch waren, ihren Vätern allmorgendlich, allabendlich die Hand. Es gab sogar sittenstrenge Familien, in denen bei den Mahlzeiten dem Vater nicht durch die Frauen aufgewartet wurde, sondern durch den ältesten Sohn. Und umgekehrt ehrte auch der Vater den ältesten Sohn auf zartstrenge Art durch uralte Bräuche, sah doch einer im andern die Nachbarstufe auf der verdämmernden Treppe der Ewigkeit.) Bei Gabriel und Stephan zeigte sich dieses Verhältnis freilich nicht mehr in urtümlich festgelegten Formen, sondern in jener Befangenheit, die beide verband und trennte. Nicht anders war die Beziehung Gabriels zu seinem eigenen Vater gewesen. Auch er hatte in dessen Nähe stets eine festlich-beklommene Spannung empfunden und niemals ein zärtliches Wort oder gar eine Liebkosung gewagt. – Umso erschütternder wirkte der Schrei, den Gabriels Sohn nun ausstieß, als er erkannte, daß

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