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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Frage sei die Verrücktheit des Apothekers gar nicht so verrückt. Gonzague wußte diese Geschichten von Krikor, seinem Hauswirt, so launig darzustellen, daß Gabriel für ein paar Minuten alles vergaß und lachend Juliette ansah. Es erging ihm merkwürdig mit diesem jungen Menschen, der das armenische Volksverhängnis für seine Person zu einem Abenteuer benützen wollte. Weil ihm diese Absicht (die überdies noch den Journalismus ins Treffen führte) nicht besonders sympathisch war, hatte er dem Griechen erst nach längerem Zögern die gewünschte Erlaubnis erteilt. Im übrigen war sein Gefühl Gonzague gegenüber äußerst schwankend. Das hübsche Gesicht mit dem dünnen Schnurrbärtchen, das den französischen Geschmack übertrieb, war ihm noch vor einer halben Stunde unangenehm gewesen. Jetzt war es ihm wieder angenehm, trotz aller Zweideutigkeit dieses Levantiners und Amerikaners, dieses Musikers und Journalisten, die seine genaue Natur störte. Gonzague war ihm jetzt nicht nur angenehm, seine Anwesenheit machte ihn Juliettens wegen beinahe glücklich. In dieser Nacht zeigte sich Maris nämlich von seiner besten Seite und es gelang ihm, Juliette zeitweilig aus ihrem verfallenen Zustand herauszureißen. Schließlich hatte dieser »Freiwillige« kein andres Los zu erwarten als alle übrigen. Und doch schien er völlig unbeschwert, ja viel heiterer zu sein als sonst. Er offenbarte zum erstenmal eine unerschöpfliche Beobachtungsgabe, die aber niemals die Grenze des wohlgesinnten Spottes übertrat. Dieses scharfe Feingefühl für Grenzen war eine Eigenschaft Gonzagues, die Gabriel über seine Zweideutigkeit beruhigte. Das Wichtigste aber war, daß er es in dieser tödlichen Nacht zustande brachte, Juliette abzulenken. Und als in später Stunde gegen die Wucht des Wartens nichts mehr aufkommen wollte, sprang er auf:
    »Courage, mes amis, es gibt nur den Augenblick und sonst nichts.«
    Dann setzte er sich zum Piano, um unermüdlich alle möglichen Gassenhauer, Chansons und Schlager zu spielen, die Juliette aus Paris kannte. Die Matchiche verlangte sie dreimal zu hören. Doch nicht nur Juliette, auch Iskuhi und die elegische Howsannah wurden fortgezogen, ohne es zu merken, und begannen Kopf und Glieder im Takt zu bewegen. Die Dienerschaft des Hauses stand verlegen in der Tür des Selamliks. Wenn sich Missak, Kristaphor, Howhannes und die Mädchen auch nicht rührten, so zuckte in ihren Augen trotz aller Todeserwartung doch die Lust der heimischen Tänze des Tarz Bar und des stampfenden Polor Bar. Gabriel Bagradian hatte schon am Abend die Bedienten alle ins Zimmer geladen. Er betrachtete, seitdem der Ausweisungsbefehl sicher war, das Dienstverhältnis als aufgehoben. Was die Hausleute leisteten, geschah nunmehr freiwillig. Jeder einzelne war Herr über sein Los. Angesichts der Verschickung konnte es weder Herrschaft noch Dienerschaft geben. Alle Volksgenossen ohne Unterschied erwarteten in diesen Stunden den Einbruch der Saptiehs. Dies war der Grund, daß auch Sato die Nacht im Empfangszimmer verbrachte. Das gute Futter hatte in den letzten Wochen die Magerkeit der Verwahrlosten etwas gemildert. Es gehörte zur Eigenart der lähmenden Wartezeit, daß alle ihren Abscheu vor dieser kleinen, widerwärtigen Volksgenossin zu überwinden trachteten. Juliette hatte für Sato ein nettes europäisches Hängekleidchen anfertigen lassen, in dem freilich die spitzknochige Hexenhaftigkeit der Kreatur noch deutlicher zutage trat als in dem gestreiften Waisenkittel. (Der Verwalter Kristaphor behauptete, Sato sei gar keine Armenierin, sondern ein Zigeunerbastard aus Persien oder Daghestan.) Das neue Kleid übte auf das Wesen Satos eine sonderbare Wirkung aus. Es nötigte ihr ein Höchstmaß an zivilisiertem Benehmen ab. Obwohl es schon am ersten Tag von den abscheulichsten Flecken verunreinigt war, stolzierte Sato hochmütig umher und drängte ihren Anblick lobsüchtig jedermann auf. (Stephan hingegen hatte zur selben Zeit seiner Mutter das einheimische Bauerngewand abgetrotzt.) Mit Rücksicht auf ihr schmetterlinghaftes Prachtkleidchen, das eine Standeserhöhung sondergleichen bedeutete, schien Sato der Meinung zu sein, daß die geliebte Iskuhi ihrer Zärtlichkeit nicht länger werde widerstehen können. Sie hockte zu Fräulein Tomasians Füßen und ließ sich nicht verjagen. Aufdringlich spielte sie mit den Säumen und Bändern, hob das Röckchen, breitete es aus, raffte es zusammen, um Iskuhis Bewunderung und Wohlgefallen zu

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