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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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erregen. Wenn es ihr nicht gelang, die Augen der Waisenhauslehrerin auf sich zu lenken, dann verzerrte sich ihre gelbliche Fratze und sie preßte den Kopf mit wütendem Druck gegen die Beine Iskuhis: »Kütschük Hanum!« Es zeigte sich aber, daß die zivilisierende Macht des westlichen Kleides nicht groß genug war, um Satos Steppengemüt wirklich zu bändigen. Kaum hatte Gonzague Maris mit seiner übermütigen Musik begonnen, kam es zu einem schreckerregenden Ausbruch der Kleinen. Es war wie bei gewissen wölfischen Tieren, die Sang und Klang mit dem gequälten Heulen ihrer nächtigen Seelen beantworten. Denn allem Elementarwesen liegt die sehnsüchtige Todesfurcht vor Maß und Ordnung zugrunde, wie sie auch der Wohllaut verkörpert. Sato hörte eine Weile mit aufgerissenen Augen dem Klavierspiel Gonzagues zu. Man sah, daß sie sich mit aller Kraft beherrschte. Sie warf ihren Körper gepeinigt hin und her. Sie krallte sich verzweifelt an Iskuhi fest. Dann fuhr es jäh aus ihr hervor. Und es war wirklich ein Geheul wie von Schakalen und Hyänen, das sie mit weitgeöffnetem Munde ausstieß, während die aufgerufene innere Macht sie sichtbar schüttelte. Alle fuhren zusammen. Nicht einmal die großen Kindertränen, die über des Mädchens Wangen liefen, konnten den Ekel und das Grauen in allen Herzen versöhnen. Auf einen Wink Gabriels packte Awakian Sato bei der Hand und führte sie aus dem Zimmer. Gonzague aber mußte sehr laut auf die Tasten hämmern, damit man das klägliche Winseln des gebannten Kobolds draußen vor den Gartenfenstern nicht höre.
    In dieser Nacht ging, wie man schon weiß, kein einziger der Hausgenossen zu Bette. Sie schlummerten minutenweise auf ihren Sitzen. Die Entsagung hatte nicht den geringsten Sinn, da der Besuch der Saptiehs vor dem Morgen, ja Mittag des kommenden Tages nicht zu erwarten war. Und dennoch dachte niemand daran, sich zurückzuziehen und niederzulegen. Bett, das weiche kissenreiche, das von faltigen Moskitonetzen kühl behütete Bett, diese liebende Mutter, diese Allheimat des Kulturmenschen, wie weit schon war sie ihnen entrückt; sie hatten keinen Anspruch mehr auf das selbstvergessene Glück. Als am frühen Morgen Howhannes, der Koch, frischen Kaffee, Eier und kaltes Huhn auf schönem Porzellan ins Zimmer schickte, da waren sie trotz Hunger und Durst beinahe beklommen. Sie aßen schnell und wie auf Abbruch. Hatten sie noch das Recht, die guten Dinge auf altgewohnte Art skrupellos zu verzehren? Vergingen sie sich nicht damit an dem Proviant der Gemeinschaft? All ihre Gedanken lebten schon oben auf dem Damlajik. Gabriel trug seine türkische Offiziersuniform. Er hatte den Säbel umgeschnallt und die Auszeichnungen angelegt. Als Offizier und Vorgesetzter wollte er die Saptiehs empfangen. Gonzague Maris riet heftig ab:
    »Ihre militärische Maskerade dürfte aufreizend wirken. Ich glaube nicht, daß sie Ihnen Vorteile bringen wird.«
    Gabriel Bagradian blieb starr:
    »Ich bin ottomanischer Offizier. Ich habe mich ordnungsgemäß bei meinem Regiment gemeldet. Niemand hat mich vorläufig degradiert.«
    »Das kann Ihnen noch früh genug zustoßen.«
    Maris sagte das laut, aber seine Gedanken fügten hinzu: Diesen Armeniern ist nicht zu helfen, denn sie sind und bleiben feierliche Narren.
    Gegen elf Uhr vormittags brach Iskuhi plötzlich zusammen. Erst war es eine kurze Ohnmacht, dann ein deutlicher Anfall von Schüttelfrost. Sie schleppte sich aus dem Zimmer, wies aber heftig jede Hilfe zurück. Juliette wollte ihr folgen. Howsannah hob abwehrend die Hand:
    »Laßt sie doch … Es ist Zeitun … Es ist die Furcht … Sie will sich verstecken … Wir erleben es zum zweitenmal …«
    Nun bedeckte die junge Pastorin ihr Gesicht, während ihr schwerer Leib von einem Krampfschluchzen schmerzhaft erschüttert wurde.
    Dies war ungefähr der Zeitpunkt, zu dem sich eine Abteilung der Saptiehs mit dem Polizeivogt und dem Müdir an der Spitze dem Hause Bagradian näherte. Atemlos meldeten die von Gabriel ausgestellten Wachen die Ankunft des Unheils. Sechs Saptiehs besetzten die Eingänge in der Umfassungsmauer, sechs andre den Garten, acht den Wirtschaftshof. Der Müdir, der Muafin und vier Mann betraten das Haus. Die türkische Truppe machte einen ermüdeten Eindruck. Sie hatte seit vierundzwanzig Stunden in den Dörfern mit Wut gewirtschaftet, das Innere der Häuser geplündert oder zertrümmert, Männer verhaftet und blutig geschlagen, ein wenig Notzucht getrieben und somit das

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