Die vierzig Tage des Musa Dagh
verfolgte eine bestimmte Absicht. Sarkis Kilikian war ja ein tapferer Soldat mit den lebendigsten Erfahrungen aus dem Kaukasusfeldzug. Außerdem besaß er Bildung und Intelligenz. Er hatte durch die Türken Namenloses erlebt, und wenn es in ihm noch so etwas wie Seele gab, so mußte sie von einem nicht mehr menschlichen Rachedurst vergehen. Die Absicht Gabriels bestand darin, eine kleine Zeitlang Kilikians Wohlverhalten scharf zu beobachten und ihm, sollte dieses seinen Erwartungen entsprechen, das Kommando der Südbastion zu übertragen. Durch diesen Schachzug hoffte Bagradian nicht nur eine wertvolle Kraft freizumachen, sondern auch die anderen Deserteure, unzuverlässige Leute, fest in die Hand zu bekommen. Er hatte deshalb den Russen nach dem Abmarsch der Zehnerschaften zurückbehalten. Kilikian betrachtete Gabriel die ganze Zeit über mit einer unbeugsamen Teilnahmslosigkeit, die zu gelangweilt war, um impertinent zu sein. Der durch Ölsklaverei, Gefängnisse und tausend schreckliche Abenteuer ausgemergelte Mensch mit seinem jugendlichen Totenkopf, der gegerbten Gesichtshaut, in erdige Fetzen gekleidet, bot trotz alledem einen nervigen, ja imposanten Anblick. Während er Gabriel Bagradian nicht aus seinen hellen, verächtlich beobachtenden Augen ließ, spürte er vielleicht, daß sich etwas in diesem wohlgepflegten und verwöhnten Herrn vor ihm beuge. Vielleicht hielt er für einfache Furcht, was die Ehrfurcht vor seinem unfaßbaren Schicksal und der Kraft war, die es überlebt hatte. Aber gerade die Ahnung eines Furchtgefühls zusammen mit dem Anblick des feingewandeten Mannes, der in seinem ganzen Leben niemals auch nur eine Minute Grauen, Entbehrung, Entehrung erlebt haben konnte, reizte das Böse in Kilikian auf. Bagradian rief ihm in scharfem Befehlston zu:
»Sarkis Kilikian! Melde dich in zwei Stunden bei mir in der Nordstellung. Ich werde dir eine Arbeit geben.«
Die Augen des Russen, die sich noch immer nicht von Gabriel abwandten, nahmen den stumpfen Glanz von Achat an. Er lachte schleppend:
»Vielleicht komme ich, vielleicht komme ich auch nicht. Ich weiß wirklich noch nicht, wozu ich Lust haben werde.«
Gabriel Bagradian wußte, daß von seiner Antwort alles abhing, daß er sich jetzt seinen Rang sichern mußte, daß seine Autorität für immer dahin war, wenn er in diesem Augenblick den Ton verfehlte und den kürzeren zog. Alles horchte gespannt. Manche verborgene Schadenfreude glomm auf. Gabriel hatte sich eine eigene Uniform aus einem noch kaum getragenen Jagdanzug seines Bruders Awetis zurechtgemacht. Er trug dazu gelbe Ledergamaschen und einen Tropenhut. Diesen setzte er auf, als er nun mit nachdenklich wiegendem Schritt auf den Russen zuging. Der Tropenhelm machte ihn um einen halben Kopf größer als er schon war. Er schlug mit seinem Stock gegen die Gamaschen und trat so unabwendbar dicht an Kilikian heran, daß dieser ein Schrittchen zurückweichen mußte:
»Hör mich, Sarkis Kilikian, und tu deinen Schädel gut auf!«
Bagradian unterbrach sich eine Sekunde lang. Er hörte, daß seine Stimme nicht ganz ruhig war. Stark klopfte sein Herz. Diese Erregung war eine Chance, die er seinem Gegner gab. Er wartete deshalb, des Russen Blick nicht auslassend, bis sich sein ganzes Wesen bis zum Rand mit klarem und kaltem Willen angefüllt hatte:
»Ich selbst gebe dir das Recht, Kilikian, das zu tun, wozu du Lust hast. Ehe ich dir aber den Rücken kehre, mußt du dich entschieden haben … Du bist frei, du kannst zum Teufel gehen, niemand hält dich, Leute wie deinesgleichen brauchen wir am allerwenigsten …«
Gabriel machte eine Pause, als erwarte er, Sarkis Kilikian werde dieser Aufforderung sofort nachkommen und in seiner höhnisch langsamen Art davonschlendern, ohne sich ein einziges Mal mehr nach dem Volk des Damlajik umzusehen. Der Russe jedoch wurzelte auf seinem Platz. In den toten Steinglanz seiner Augen verirrte sich ein neugieriger Schimmer. Bagradians Stimme nahm ein kühles Bedauern an:
»Ich habe vorgehabt, dich Kilikian, der du Soldat gewesen bist, durch eine Führerstelle vor den anderen auszuzeichnen, weil du von den Türken mehr erduldet hast als irgend einer hier. Du hättest dich und deine Kameraden an ihnen blutig rächen dürfen … Da du aber noch nicht weißt, ob du dazu Lust haben wirst, da du wirklich nur ein verlotterter feiger Deserteur bist, da du die Pflicht gegen dein Volk nicht anerkennst und vorhin einen Meineid des Gehorsams geschworen hast, so lauf und laß
Weitere Kostenlose Bücher