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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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dich nie wieder hier blicken! Wir können einen Schmarotzer nicht brauchen, einen frechen Lumpen, der den Frauen und Kindern das Brot wegfrißt. Wenn du es aber wagst, dich noch einmal unter uns zu zeigen, so lasse ich dich erschießen! Geh zu den Türken hinüber! Ihre Kompagnien werden bald hier sein. Sie warten schon auf dich!«
    Für einen Mann wie den Russen hätte es jetzt nur eine einzige Möglichkeit gegeben, sich auf diesen feinen Herrn, diesen »Kapitalisten« zu stürzen und ihm die Faust in die Fresse zu schlagen. Sarkis Kilikian aber rührte sich nicht. Seine Augen verloren die starre Ruhe und forschten in der Männerrunde nach Parteigängern. Gabriel Bagradian ließ fünf Sekunden vorübergehen, die seine Macht wie eine Welle hochtrugen, dann schrie er den Mann unvermittelt mit schneidender Stimme an:
    »Ich sehe, du hast dich entschieden. Also, marsch! Verschwinde!«
    Es war sonderbar, wie diese peitschensausenden Laute den Russen sofort in einen alten Sträfling verwandelten. Er duckte den Kopf zwischen die Schultern und lauerte von unten an dem Gegner empor, der ihn hoffnungslos überragte. Die ganze Schwäche Kilikians aber lag in der Geistesklarheit, mit der er seine Lage beurteilte. Er spürte genau, daß er einen ekelerregend minderwertigen Augenblick erlebte, denn alle Gewalttätigkeit hängt davon ab, daß der trunkene Haßgeist nicht durch Vorausberechnung der Folgen gebrochen ist. Kilikian aber wußte in diesem Sträflings-Moment, was er zu verlieren hatte. Seit vier Monaten schon lebte er auf dem Musa Dagh in sicherer Verborgenheit. Was er zum Leben brauchte, hatte er sich nachts in den Dörfern zusammengebettelt. Der Auszug des Volkes auf den Berg bedeutete für ihn eine ungeahnte Verbesserung seines Lebens. Wurde er aber aus dem Lager gestoßen, verschwand für ihn die letzte Möglichkeit, menschliche Nahrung zu finden. Im Tale durfte er sich hernach nicht mehr sehen lassen. Doch auch die umliegenden Berggebiete würden von den Türken im Handumdrehen besetzt sein. Der Tod, der ihn höhnischerweise so oft verschont hatte, konnte sich dann an ihm gütlich tun. Die Türken würden ihm mindestens das Fell vom Leibe schinden und jedes Glied gesondert ermorden. Dies alles war dem Russen im blitzhaften Bruchteil einer Sekunde bewußt und weder sein Stolz, sein Haß noch sein Trotz kamen wider dieses Bewußtsein auf. Er versuchte noch einmal glucksend zu lachen. Doch es kam dabei nur ein beschämend kleinlauter Spott zustande. Gabriel Bagradian wich nicht um Haaresbreite:
    »Nun?! Was stehst du noch hier herum?!«
    Sarkis Kilikians geduckter Sträflingskopf drehte sich zur Seite:
    »Ich will …«
    »Was willst du?!«
    Der Russe schlug neue Augen auf, nicht mehr jene blassen verlebten Achate, sondern unsichere Knabenblicke. Gabriel mußte an den elfjährigen Jungen denken, der mit erhobenem Küchenmesser vor seiner Mutter stand, um sie zu schützen. Es dauerte lange, ehe Kilikian die entscheidenden Worte eines Unterliegenden hervorwürgte:
    »Ich will bleiben!«
    Gabriel überlegte, ob er den Mann nicht völlig auf die Knie zwingen müsse, und zwar dergestalt, daß er ihn vor den versammelten Zehnerschaften zu flehentlicher Abbitte und einem verschärften Gehorsamsschwur verurteilte. Nicht nur Mitleid jedoch (das Bild des Elfjährigen), sondern ein innerster Instinkt rieten davon ab. Es wäre eines überlegenen Führers unwürdig gewesen, den Sieg über einen Schwachen voll auszukosten und die eigene Front mit einem ganz und gar erniedrigten Feind zu belasten. Daher nahm sein scharfer Offizierston eine Schwebung von Güte an: »Ich werde dich dieses erste und letzte Mal begnadigen, Kilikian, und will es eine kurze Zeit mit dir versuchen. Aber du bist nicht fähig, die geringste Verantwortung zu tragen. Hüte dich, du bist beobachtet! Abtreten!«
    Der Triumph Gabriel Bagradians war so überwältigend, daß der Gemaßregelte militärisch grüßend an die Lammfellmütze griff, ehe er sich unauffällig davonmachte. Die Niederwerfung des aufsässigen Deserteurs, den alle fürchteten, begründete recht eigentlich erst die Machtstellung des Oberbefehlshabers. Tschausch Nurhan und die Gruppenführer nahmen unwillkürlich stramme Stellung. In manchem Auge stand zu lesen: Es zeigt sich doch, was ein geborener Herr ist. Dem peinlichen Auftritt hatte außer Aram Tomasian und Hapeth Schatakhian, die ja Mitglieder des Kriegskomitees waren, auch Lehrer Hrand Oskanian beigewohnt. Er sah nach seiner Art finster

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