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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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erwarten. Der Priester, Tatsachenmensch und Psychologe zugleich, verfolgte mehrere Absichten damit. Erstens: Er wußte, daß der Mensch zugrunde geht, wenn er sich nicht auf irgend etwas, und sei es auch das Geringste, freuen kann. Zweitens: Harisa ist keine reine Fleischspeise, da sie einen Mehlzusatz enthält. Sie hilft Brot sparen und befriedigt doch das Bedürfnis danach. Drittens: Harisa verdirbt nicht. Sie ist kalt und warm genießbar, äußerst sättigend und bedeutet folglich den besten Kriegsproviant. Viertens: Der armenische Bauer und Handwerker fühlt sich in einer Welt nicht zu Hause, wo es keinen Tonir gibt. Vielleicht kommt das daher, weil der Tonir einst der Altar der Feueranbetung gewesen ist, weshalb ihn auch heute noch die Gefühle eines göttlich gesicherten Heimwesens umschweben mögen. Ter Haigasun strebte nichts tatkräftiger an, als seinen Gemeinden hier in der Wildnis und Todesumschlungenheit das Bewußtsein zu schenken: Wir sind zu Hause. Dafür sollten trotz aller Opfer und Entbehrungen die Tonirs und Harisa sorgen. Dies plante der kluge Priester; und kaum hatte er die vertrauten Worte gesprochen, hellte eine Welle von Zufriedenheit die murrenden Gesichter auf.
    Ter Haigasun, Gabriel und der Führerrat rechneten ohne Selbstbetrug mit der Vernichtung, die den Musa Dagh von allen vier Weltrichtungen her bedrohte. Mit einer Richtung der Gefahr jedoch hatten sie bisher wenig gerechnet. Und gerade aus dieser Richtung brach noch vor Sonnenuntergang ein Unheil herein, das nie wieder gutzumachen war.
    Die Arbeiten schritten heute immer besser vorwärts, schon deshalb, weil die Sonne bedeckt war. Sie schleuderte ihre Hochsommerstrahlen nicht auf die armen Rücken der Roboter und niemand mußte sich vor ihr schützen. Obgleich aber die Sonne bedeckt war, standen doch keine Wolken am Himmel, und man konnte auch nicht sagen, daß es kühler geworden sei. Die Luft war von einer wolkig trüben Substanz durchdrungen, von einem spülichtfarbenen Bodensatz des Weltalls wie von unreiner Gesinnung; anstatt der offenen brennenden Hitze lastete Schwüle bergschwer auf allen Dingen. Das Meer lag ganz glatt. Manchmal überlief es ein Gluthauch vom Westen, ohne seine feste Fläche zu ritzen. Doch trotz dieser schweren Bewegungslosigkeit der See umsprang vom Mittag an die Brandung mit unterdrücktem Zorn immer lebhafter die Klippen. Die Menschen, von ihren Sorgen und Mühen besessen, hatten des scheeläugigen Wetters nicht acht. Der plötzliche Überfall des Himmels gelang daher vollkommen. Vier, fünf einherratternde Sturmstöße wie ein kurzes Kriegsmanifest. Der ganze Damlajik, jeder Felsblock, jeder Baum, jeder Myrthen- und Rhododendronstrauch ein einziger aufhorchender Schreck! Dann das Einsatzzeichen eines entsetzlichen Donnerschlags. Und schon ritt das blitzschnelle blitzreiche Südgewitter die rasselnde Attacke, alles in seinen dicht-erstickenden Staub hüllend. Die Matten, die Decken, die Betten, die Kissen, die Laken, die Tücher, die Töpfe, die Krüge, die Lampen, das Leichte, das Schwere, alles klirrte und wimmerte auf, wurde gestürzt, im Kreise gedreht oder davongetragen. Auch die Menschen schrien auf, begannen die boshaft entwischenden Sachen zu jagen, stießen einander an, zertraten das Gut des Nächsten. Den Schlachtlärm aber überbrüllte das jammernde Aufbegehren der kleinen Kinder, als verstünden sie die geheime Bedeutung dieser himmlischen Züchtigung am ersten Tage. Kurz darauf warf die wilde Jagd nach der fliegenden Habe ein Hagel nieder, wie ihn das Bergvolk noch niemals erlebt zu haben wähnte. Nach vergeblichem Widerstand legten sich viele platt auf die dampfende Erde hin und boten ihre Rücken der peitschenden Bastonade dar. Sie bissen in die Erde. Sie wollten vergehn. Ein Ruf plötzlich: Die Munition! Glücklicherweise aber hatte Gabriel Bagradian die Patronenverschläge in das Scheichzelt bringen lassen und Tschausch Nurhan für die Trockenhaltung des unverarbeiteten Pulvers vorgesorgt. Der zweite Gedanke galt den Lebensmitteln. Die Männer stürzten schreiend zum Depotplatz. Zu spät! Die Fladen waren in klebrigen Teig verwandelt, die Brotlaibe in aufgebrochene Schwämme. Alle Mehlsäcke qualmten wie gelöschter Kalk. Und diese Vernichtung war das schwerste Unheil. Der größte Teil des Salzes zerlief in der Erde. So mancher dachte der uralten Drohung, daß der Mensch dereinst am jüngsten Tage alles durch seine Schuld vergossene Salz werde mit den Augenlidern aufsammeln müssen.

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