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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Rückäußerungen trafen erst nach fünf Tagen ein. Der Musa Dagh habe, so lauteten die Befehle, mit den vorhandenen Mitteln und unter allen Umständen unverzüglich geräumt zu werden. Das einzige Zugeständnis an den Bimbaschi bestand aus zwei 10-cm-Feldhaubitzen, die sich auf dem Wege von Hama nach Aleppo befanden und nach Antakje umbeordert wurden. Die Geschütze trafen am siebenten Tag, das war der zwölfte August, am Bestimmungsort ein. Ihre Bemannung setzte sich aus einem blutjungen Leutnant, drei Unteroffizieren, zwölf alten Reservekanonieren und ein paar schmutzigen Fuhrknechten zusammen. Haubitzen dieser Art ließen sich im Gebirge nur unter großen Schwierigkeiten verwenden.
    In gewisser Hinsicht hatte es Stephan schwerer als sein Vater, den ja noch Kindheitserinnerungen mit dem Musa Dagh verbanden. Der Knabe aber war in Europa aufgewachsen, unter den Schulkindern Frankreichs und kannte bis zur Ankunft in Yoghonoluk von seinem Volke nur diejenigen Personen, welche als Onkel, Tanten und sonstige Verwandte und Freunde das Ehepaar Bagradian in Paris, in der Schweiz und in Stambul besucht hatten. Dies waren Leute, die genau so aussahen wie alle anderen Europäer und sich mit Stephan in einem ganz unauffälligen Französisch unterhielten. Umso verwundernswerter muß deshalb die große Verwandlung berühren, die sich an dem Knaben seit dem Tage vollzogen hatte, da er das erstemal in Herrn Hapeth Schatakhians Schulklasse getreten war. Binnen so kurzer Zeit schienen von Stephan die vierzehn Jahre Europa, sein ganzes Leben also, wie weggewaschen zu sein. Er sank, wenn man es so nennen darf, in sein Volk zurück, und dies zehnfach tiefer und gründlicher als sein Vater. (Verwunderlich bleibt auch der Gedanke, daß dieses Kind, wäre es nicht durch ein geheimnisvolles Schicksal nach Syrien verschlagen worden, wahrscheinlich niemals von seiner Blutzugehörigkeit etwas Lebendiges erfahren hätte und dadurch auch nichts von seinem innersten Selbst.) Bei Gabriel Bagradian lagen die Dinge anders. Seine Neuverwurzelung war ein Akt der Not und des Willens. Es mußte sein. Ihn trieb die Macht der Tatsachen und noch eine andre Macht, die hinter ihnen stand. Und doch, viel näher seiner Blutsheimat, war er von ihr dennoch viel weiter entfernt, als der entferntere Stephan. Schon durch seine Ehe stand er zwischen den Rassen. Anfangs war es ihm gewissermaßen »taktlos« vorgekommen, als Fremder den Bodenständigen sein Rettungswerk aufzudrängen. Vielleicht lag darin eine Ursache jener feierlichen und doch gebrochenen Empfindung, die ihn nach dem Siege vom vierten August eigentümlich erfüllt hatte. Nicht so Stephan. Obgleich doppelten Blutes, schien der Anteil seiner Mutter in ihm ziemlich machtlos zu sein. Juliettens weibliche Einwirkung auf ihren Gatten spielte eine weit größere Rolle in Gabriels Natur, als ihre mütterliche Teilhabe in der Natur Stephans. Man hätte oft meinen können, der Vater sei der durch hochgespannte Blutmischung Zerrissene, und nicht der Sohn. Bei Stephan entwickelte sich alles sehr einfach. Er war zum orientalischen Armenierjungen geworden, zu dem, was alle anderen Mitschüler um ihn herum waren. Der Grund? Er hätte sich anders unter ihnen nicht behaupten können. Dieser zugleich gravitätischen, zugleich affenhaft geschmeidigen Jugend flößten nämlich weder die Manieren noch die Kenntnisse des feinerzogenen Stephan die geringste Achtung ein. Da half das beste Französisch nicht im Mündlichen und nicht im Schriftlichen, da halfen keine noch so schön auswendig gelernten Fabeln von Lafontaine und Gedichte von Victor Hugo, da half die verläßlichste geographische Wissenschaft ebensowenig. Was letztere anbelangt, so hatten die Buben und Mädel von Yoghonoluk ihre eigene Auffassung; sie legten überhaupt den selbstbewußten Volksvers vom »gebildeten Kind« auf sonderliche Art aus. Erzählte ihnen Stephan von den abendländischen Städten, so lachten sie ihn als einen ungeschickten Märchenerzähler aus, so wie sie ihn auslachten, wenn er seine Schulbücher unterm Arm trug, anstatt auf dem Kopfe nach altem Brauch, der ihnen der einzig erlaubte schien. Schließlich tragen die Frauen, wenn sie vom Brunnen kommen, den Krug auch nicht unter der Achselhöhe, sondern schön auf Kopf oder Schulter. Was für vernagelte Köpfe müssen diese Europäer haben. Bei solchen Gelegenheiten bekam Stephan weise Sprichworte aus dem Volksschatz zu hören:
    »Ihr gebt wohl den Kamelen das Wasser mit dem Löffel

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