Die vierzig Tage des Musa Dagh
Kenntnis brachte: Es ist ein Unglück, daß ich diesen alten Trottel von Oberst mit mir schleppen muß. Ihr kennt mich ja und wißt, daß ich zu allem fähig bin und alles durchführe, was ich mir vornehme. Denn ich gehöre zur Ittihad-Generation. Einer der Zugsoffiziere der geschlagenen Kompagnie, der einzige Mülasim, welcher den vierten August überlebt hatte, derselbe, der von Gabriel Bagradian mit seiner Botschaft nackt nach Antakje gesandt worden war, stand vor der Bezirks-Konferenz, um Bericht abzulegen. Man konnte es ihm nicht übelnehmen, daß er zur Rechtfertigung des Unglücks die Verteidigungskraft der Armenier mit den wildesten Farben malte. Es müßten sich ihrer zehn-, ja zwanzigtausend auf den Höhen des Musa Dagh in den stärksten Befestigungen verborgen halten. Auch hätten sie wohl schon seit Jahren soviel Waffen, Munition und Proviant gesammelt, daß sie ohne jede zeitliche Begrenzung Widerstand leisten könnten. Er, der Mülasim, habe mit eigenen Augen zwei eingebaute Maschinengewehre gesehen, die außer der zehnfachen Übermacht den unheilvollen Ausgang entschieden hätten. Der Kaimakam sagte kein Wort, stützte den Kopf in seine rechte Hand und warf einen Blick auf die Kriegskarte des Ottomanischen Reiches, die auf dem Konferenztisch lag, obgleich so große Dinge hier niemand angingen. Die Beamten des Hükümets aber vergnügten sich oft damit, die Fronten mit Fähnchen auszustecken. Trotz der wohlwollenden Künste der Beamten sah das Zukunftsbild nicht rosig aus. Die Fähnchen rückten immer weiter ins türkische Fleisch vor. Die Kriegslage unter Enver Paschas Führung rechtfertigte seinen Ruhm nicht. Die Kaukasusarmee, die besten Korps bedeckten als unbegrabene Skelettfelder die Pässe und Täler des weglosen Gebirges. Die Russen aber standen schon an der Grenze Persiens, mit dem Gesicht gegen Mossul, und jagten Djewded Pascha, den bekannten Massaker-General und Schwager Envers, vor sich her. Die Engländer mit ihren Hindus und Ghurkas bedrängten Mesopotamien. Die großartige Suez-Expedition Dschemals war im wahrsten Sinne des Wortes im Sande verlaufen. Der Wüstensand hatte Männer und Material verschluckt. Währenddessen aber drückten die Alliierten auf der Halbinsel Gallipoli, von den Riesengeschützen ihrer Flotten unterstützt, fast schon die Tore Stambuls ein. Unendliche Mengen von Mordmitteln und anderem Kriegsgerät waren bei all diesen Gelegenheiten bereits vergeudet worden. Die Türkei aber besaß keine oder beinahe keine Rüstungsindustrie. Sie war von der Gnade Krupps in Essen und Skodas in Pilsen abhängig. Diese Erzeugungszentralen des Todes konnten die ihnen näherstehende Kundschaft und deren unermeßlichen Verbrauch kaum mehr kulant bedienen. Nur spärlich tröpfelte von der Riesenmasse der täglich erzeugten Kanonen, Haubitzen, Mörser, Maschinengewehre, Hand- und Gasgranaten ein Bruchteil für die Türkei ab, mußte aber dann mit möglichster Eile an die verschiedenen Fronten befördert werden. Daher kam es, daß die riesigen Etappengebiete des Reiches nicht nur von Mannschaften, sondern auch von Waffen und Gerät in hohem Grade entblößt waren. Vielleicht stand es im Etappenbereich der Vierten Armee, in Syrien, deshalb am schlimmsten, weil Dschemal Pascha seine zweite Suez-Expedition vorbereitete und alle verfügbaren Kräfte langsam in Palästina zusammenzog. Jedenfalls trafen aus Damaskus und Jerusalem unausgesetzt dringende Anforderungen von Männern, Kriegsmitteln und Proviant in den syrischen Städten ein. Maschinengewehre gar waren unerschwingliche Träume. Als der Kaimakam dieses Wort aus dem Munde des armen Mülasims hörte, sah er ihn mit seinen schweren Augen geistesabwesend an und murmelte versunken: »Maschinengewehre?!«
Der alte gutmütige Bimbaschi mit den roten Kinderwangen setzte seine Brille auf, obgleich nichts zu verlesen war. Vielleicht wollte er damit nur zeigen, daß er der Weitsichtigste unter allen war:
»Das Unglück ist wegen eurer Dummheit und eures Leichtsinns geschehn«, nickte er dem Mülasim zu, »denn das Reglement befiehlt, daß man eine feindliche Stellung vor dem Angriff auskundschafte. Nun aber, da die Sache so schlimm ausgefallen ist, frage ich den Kaimakam: Was willst du haben? Sollen noch mehr unserer Leute geopfert werden? Oder sollen wir diese Verfluchten auf ihrem Berge ruhig verkommen lassen? Was schaden sie uns? Die Deportation ist euer Geschäft, nicht unsres. Werdet ihr Zivilisten damit fertig! Wenn sie wirklich
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