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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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eine wichtige Eigenschaft dazu, die der Bauernjugend abging. Selbst Haik, über vierzehn Jahre schon, hoch aufgeschossen und muskelstark, das unbestreitbare Haupt der Bande, besaß das gesammelte, planende und folgerichtige Denken nicht, das Stephan aus Europa mitgebracht hatte. Diese orientalischen Kinder vergaßen ihre Pläne meist schon vor der Ausführung, sie wurden von ihren kurzatmigen Einfällen, von ihrer dumpfen Triebhaftigkeit herumgewirbelt wie Laub im Wind. Sah man ihnen nach der Schulzeit zu, so glichen sie einem erregten Tierrudel, das sinnlos und unbekannten Regungen folgend bald hierher stürmt, bald dorthin, ohne jedes ersichtliche Ziel. Wenn sie sich wie ein Vogelschwarm zu unbewachter Stunde auf die weiten Obstgärten niederließen, so konnte das noch als ein zweckhaftes Unternehmen gelten, weit öfter jedoch strichen sie, wie vom Dämon besessen, ins Bergdickicht oder zu einem seichten Tümpel oder auf ein Feld hinaus und begannen sich zu wälzen und zu sühlen. Diese Streifzüge endeten oft mit einer religiösen oder besser mit einer heidnischen Kultzeremonie, deren sie sich selbstverständlich nicht bewußt waren. Es begann damit, daß sie eine Runde bildeten, sich umfaßten, erst leise summend die Köpfe wiegten, dann ihre Stimmen und rhythmischen Bewegungen immer höher steigerten, bis alle zuletzt in einen heulenden Taumel sondergleichen gerieten. Auf manche unter ihnen wirkte diese Zeremonie so stark, daß sie die Augen verdrehten und Schaum vor dem Mund hatten. Sie übten damit in ihrer Einfalt nichts anderes als den altbekannten Versuch gewisser Derwisch-Orden, sich durch epileptische Ich-Überwindung mit den planetarischen Urkräften in geheimen Zusammenhang zu setzen. Von Erwachsenen hatten sie Ähnliches niemals gesehen, aber das Bedürfnis nach solchen Übersteigerungen lag in der Luft dieses Landes. Stephan, der Europäer, stand natürlich während derartiger Ekstasen hilflos abseits. Doch auch der große bedächtige Haik beteiligte sich an diesen Ausbrüchen nicht, vielleicht deshalb, weil er sich all jener Kräfte bis zum Rande voll wußte, welche die anderen durch ihr Gewiege und Geheule in sich hinein soffen. In anderen Stunden wiederum gelang es Stephan, planvolle Unternehmungen zu veranstalten, und siehe da, nach einigen Erfolgen in dieser Richtung hatte er sich allgemach ein Ansehen errungen. Die volle Obmacht über seine Altersgenossen konnte er nicht an sich reißen. Eine Kraft fehlte ihm und mußte ihm fehlen, und zwar jene Kraft, welche das Leben dieser Jugend am mächtigsten beherrschte: Hellsichtige Naturverschwisterung, die sich mit Worten gar nicht ausdrücken läßt. Wie ein guter Schwimmer in den Fluten liegen, sitzen, stehen, gehen, tanzen kann und mit unbeschreiblicher Körperfreude »in seinem Elemente ist«, so waren die Kinder des Musa Dagh im Umkreis des Berges unbeschreiblich in ihrem Element. Sie waren durchwoben von der Natur ringsum. Diese Natur war ihnen so eingefleischt, daß es kein Außen und Innen mehr gab. Jedes Blatt, das sich im Wind bewegte, jede Frucht, die vom Baum fiel, das Rascheln einer Eidechse, das Zirpen eines weit entfernten Wässerchens, all diese Tausendfalt wurde von ihren Sinnen nicht gespiegelt, sondern begab sich unmittelbar in diesen Sinnen, als sei jedes von ihnen ein kleiner Musa Dagh in Person, der alles aus sich selbst hervorbringe. Ihre Körper waren wie Brieftauben, die durch einen übermenschlichen Orientierungssinn sich nie verirren können. Ihre Körper waren wie dünne, schmiegsame Wünschelruten, die über allen verborgenen Erdschätzen zuckenden Ausschlag geben. Mit ihnen verglichen, besaß der Knabe Stephan, der allzulange das tote Pflaster getreten hatte, einen zwar geschickten und ehrgeizigen, aber stumpfen Körper.
    Als dann das Volk auf dem Damlajik sein Lager aufschlug, als die leeren Streifzüge aufhören mußten und von der Jugend Disziplin und zielvolle Tätigkeit gefordert wurde, da wuchs das Ansehen Stephans immer höher, nicht zuletzt durch den kriegerischen Führerrang seines Vaters, der auf ihn abglänzte. Die Kohorte der Halbwüchsigen bestand aus Burschen zwischen zehn und fünfzehn Jahren. Die wenigen Mädchen darunter waren keines über elf Jahre, da in jenen Gegenden die weiblichen Zwölfjährigen schon als reif gelten. Auch für die größeren Burschen sollte auf Ter Haigasuns Geheiß in den dienstfreien Stunden Schule gehalten werden. Es kam aber nie dazu, da die Lehrer, die entweder in den

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