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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Stellungen oder in der Lagerverwaltung beschäftigt waren, keine Zeit hatten oder sich vom Unterricht drückten, den sie für gänzlich überflüssig hielten. Wenn man von Hapeth Schatakhian absieht, der den Befehl über die Spähergruppe führte, und von Samuel Awakian, der den Dienst der Ordonnanzen einteilte, so hatten die dreihundert und mehr Jungen, aus denen die leichte Truppe bestand, fast keine Oberaufsicht und blieben den größten Teil des Tages sich selbst überlassen. Es bildete sich daher aus den kräftigsten und verwegensten Gesellen eine freie Bande, die sich die Zeit auf eigene Faust vertrieb. Dies waren etwa fünfundzwanzig oder dreißig Burschen, die sich durch Hochmut und Tatendurst aus der breiten Plebs heraushoben. Sie trieben sich auf der Hochfläche des Damlajik herum und machten jede Kuppe, Schrunde und Schlucht unsicher. Sie wagten es auch, ihre Spiele bis in die Stellungen vorzutragen und die unter Nurhan Elleons Fuchtel übenden Zehnerschaften durch ihr neugieriges Herumlungern zu erbittern. Man verbot ihnen das unnütze Schweifen. Da wurden sie frech und verlegten ihre Tätigkeit auf das Gelände außerhalb des Verteidigungskreises, auf die Höhen jenseits des Sattels, auf den talzugekehrten Bergabhang, in die Felsenritzen und Wasserrinnen der Küstenseite. Eine Grenzübertretung der Stellungen galt auf dem Damlajik als ein Verbrechen. Die Bande aber wußte ihre Fürwitzigkeit so zu verschleiern, daß sie unentdeckt blieb. Stephan und Haik gehörten dazu, das war klar. Doch auch Sato hatte sich eingeschlichen und man konnte sie nicht loswerden. Obgleich die Familie Bagradian dem ortsfremden Bastard in ihrem Hause Zuflucht gewährt hatte, duldete ihn das Volk nur ungern im Kreise der Kinder. Deshalb war Sato völlig von der Laune der Horde abhängig. Einmal wurde sie verprügelt, das andremal erlaubte man ihr, mitzuhalten. Wie überall so auch hier, hielt sie sich nur am Rande auf. Wenn die Schar über Stock und Stein jagte, lief sie mit, doch niemals dicht unter den andern, sondern immer ein gutes Stück abseits. Hockte aber die Bande in der Steineichenschlucht beisammen oder an irgend einem anderen unerlaubten Ort außerhalb der Befestigungen, wurde geprahlt, Neues ersonnen oder nur nach gewohnter Art in wildschaukelnden Körperbewegungen das Dasein gesteigert, dann schauten Satos durstige Augen aus ihrer Einsamkeit herüber. Die Ewig-Abseitige mischte ihre gaumige Stimme in den Chor und ahmte auf ihrem Platz das tolle Körperschaukeln der Gemeinschaft nach.
    In diesem Kreise gab es außer Sato noch einen Geschlagenen. Er hieß Hagop, und Stephan beschützte ihn. Hagops rechter Fuß war vor einigen Jahren in Antakje vom dortigen Militärarzt amputiert worden. Nun hüpfte der Junge an einer rohen Krücke umher: nur ein Stock mit einem Querholz drüber. Aber trotz dieser unzulänglichen Stütze bewegte sich Hagop mit einem leidenschaftlichen Ungestüm, mit einer wilden Gelenkigkeit, wie man sie gerade an Krüppeln oft beobachten kann. Er wollte den Zweibeinigen nicht nachstehen, und wenn er ihnen bei ihren Sturmläufen folgte, so maß der Abstand zwischen ihm und dem Letzten keine Handbreit. Hagop stammte aus guter Familie und war mit den Tomasians verwandt. Er hatte nachdenkliche Augen und, was hierzulande eine große Seltenheit war, goldblondes Haar. Er las mit großem Eifer, was er zu Hause an Kalendergeschichten und ähnlichen Drucksorten vorfand. In Yoghonoluk hatte er sich von Stephan Bücher ausgeliehen. Er besaß den Ruf eines fleißigen Lerners, was trotz Apotheker Krikors erhabenem Vorbild und der bildungsfreundlichen Volkspoesie keine besondere Empfehlung in der Knabenhorde bildete. Ein Bücherwurm zu sein, war aber gar nicht Hagops Ehrgeiz. Er wollte rennen, spielen, klettern, raufen und, seitdem man im Kriege stand, die wichtigen Pflichten eines Meldeläufers, Spähers und Schleichpostens so gut erfüllen wie ein anderer. Stephan, der sich schon wegen seiner blonden Haare zu ihm hingezogen fühlte, förderte ihn, und nicht nur aus Mitleid. Haik jedoch stand Hagops Ehrgeiz hart im Wege. Ohne die geringste sentimentale Nachsicht ließ er ihn stets fühlen, daß ein Krüppel nicht in Betracht komme.
    Haik war ein Fall für sich. Er verkörperte mit seinen vierzehneinhalb Jahren schon völlig das finstere Wesen des erwachsenen Berg-Armeniers. In seiner nervichten Magerkeit, in dem langsamen vornübergeneigten Gang, in dem schweren Herabhängen seiner großen Hände zeigte sich der

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