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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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ein?«
    Ganz im Gegensatz zu den Intellektuellen von der Sorte Schatakhians, die vor jeder westlichen Errungenschaft und vor dem Wonnehauch europäischer Ästhetik (Juliette) in Ehrfurcht vergingen, war die rauhe Dorfjugend des Musa Dagh von der Überlegenheit, ja dem ausschließlichen Höchstwerte der heimischen Lebensweise restlos durchdrungen. Über den Vorzug von Daseinsformen läßt sich immer streiten. Dem einen tut das Hocken weh, dem andern das Sitzen. Der Glaube an die Höher- oder Minderwertigkeit solcher Formen wird nicht durch ihren absoluten Rang bestimmt – den gibt es nicht –, sondern durch die Diktatur der Umwelt. Stephans Umwelt erklärte schon in der ersten Schulstunde seinen englischen Anzug, den breiten Kragen, Manschetten, Strümpfe, Schnürstiefel für eine nicht nur närrische, sondern geradezu herausfordernde Bekleidungsart. Wäre Stephan ein verzärtelter Weichling gewesen, er hätte Papa sofort gebeten, ihm den Schulbesuch zu erlassen. Er aber nahm den Kampf auf. Man weiß ja schon, daß er seiner Mutter nach einem mehrtägigen Streit die Erlaubnis abgetrotzt hatte, die bodenständige Tracht sich anschaffen zu dürfen. Bald stolzierte auch er mit Schalwar-Hosen, dem Entari-Rock und der Aghil-Schärpe bekleidet, über den Kirchplatz von Yoghonoluk. Seine Füße steckten nicht mehr in Schnürstiefeln, sondern in Pantoffeln. Juliette war entsetzt. Doch in Iskuhi erstand dem Jungen eine Helferin: »Warum soll er diese Kleider nicht haben?« fragte sie. »Sind sie denn weniger schön als die europäischen?« Juliette aber sah ihren Sohn mit abweisenden Augen an: »Er kommt mir vor wie aus einer Maskenleihanstalt kostümiert.« In den neuen Kleidern glich Stephan, der ein hübscher Junge war, den schönen Prinzen auf alten persischen Miniaturen. Juliette empfand es, doch sie empfang ebensosehr, daß dieser Prinz mit ihrem Kinde nichts mehr zu tun habe. Zwischen ihr und Stephan wurde ein Abkommen getroffen: Er durfte »kostümiert« zur Schule gehen, mußte aber zu Hause »normal« gekleidet sein. Nach der Flucht auf den Damlajik aber wurde dieser Vertrag hinfällig, weil es ja kein »zu Hause« und deshalb auch kein »normal« mehr gab. Von Stund an trug Stephan überhaupt nur mehr Entari und Schalwar. Übrigens bekam ihn Juliette nur selten auf dem Dreizeltplatz zu sehen, meist nur beim Mittagessen und vor dem Schlafengehen. Sooft er sich zeigte, war er erregt, verschwitzt und ungeduldig. Die Mutter hatte allen Einfluß auf ihn verloren. Es war, als habe er niemals ein zivilisiertes Leben kennen gelernt. Juliette konnte sich oft kaum mit ihm verständigen.
    Ja, Stephan war verwandelt. Doch wieviel Mühe diese Rückverwandlung ins Primitive ihn gekostet hatte, das wußte niemand. Er besaß nun die gleichen Gewänder wie die anderen. Diese Gewänder aber waren anfangs schmachvoll rein und ohne Riß. Die Sauberkeit war eine Schwäche – dies erkannte er –, deren Sitz in ihm selbst lag. Er konnte ein beklemmendes Gefühl nicht los werden, wenn er schmutzige Hände und Füße, schwarze Nägel und ungekämmte Haare hatte. Als er eines Tages, noch in Yoghonoluk, sich Kopfläuse zugezogen, wand Mama mit angeekelten Händen ein petroleumgetränktes Handtuch um sein Haar, und er fühlte sich tief unglücklich. Stephan war der Dorfjugend gegenüber ständig im Nachteil. Seine Füße zum Beispiel blieben zart und weiß, wieviel Mühe er sich auch gab, mit ihnen in Staub, Schmutz, Schlamm umherzuwaten und sie allen möglichen Klettergefahren auszusetzen. Das einzige, was er erreichte, war Sonnenbrand, Blasen und Schrammen, die ihm außer heftigen Schmerzen auch noch Hausarrest zuzogen. Wie beneidete er die unverwundbaren Füße seiner Kameraden, braune dürre Tiertatzen, ihm unendlich überlegen. Bitter mußte Stephan leiden, ehe er sich durchsetzen konnte. All diese Haiks und Hagops, diese Anahids und Sonas sahen in ihm die längste Zeit nur einen Parvenü der Verwilderung. Geht es nämlich um Macht- und Gleichberechtigungsfragen, dann entwickeln selbst einfache Naturkinder den gehässigen Kastengeist eines bevorzugten Standes. Die Dorfjungen ließen Stephan fühlen, daß er nicht ihresgleichen sei und daß sein strahlendes Vaterhaus samt Herrn Awakian und dem Dienertroß ihnen nicht genug Achtung einflöße, um ihm »Echtheit« zuzuerkennen. Was hatte nun Stephan, der sonderbare Streber, in diesem Ringen einzusetzen? Ehrgeiz, Energie, die sich oft gegen seinen eigenen Körper richtete, und noch

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