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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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unzugänglichen Nichts verschwand, lief der Rasende durch den östlichen Gartenausgang den Dorfweg nach Yoghonoluk hinab. Den städtischen Knaben zog das Gebahnte an. Es war wie ein Zwang seiner Natur, obgleich er spürte, daß er eine unsinnige Richtung nahm. Er wäre fast den Saptiehs in die Arme gelaufen, die durch die Schießerei aufgestört, jetzt, die entsicherten Gewehre in der Faust, vom Kirchplatz heranstürmten. Stephan trat zur Seite und kauerte sich in den Graben. Das Wunder geschah. Die Saptiehs rannten an ihm vorüber. Diesen aber kamen die Mohadschirleute entgegen, brüllend und wild fuchtelnd. Die Türken schienen allesamt von einer rasenden Angst gepackt. Sie vermuteten einen plötzlichen Überfall der armenischen Krieger. Sie schossen wie Wahnsinnige nach allen Seiten, teils um ihre Furcht loszuwerden, teils um die Posten in den anderen Dörfern durch Schnellfeuer zu Hilfe zu rufen. Erst als sich der Lärm gegen Nordwesten verzogen hatte, warf sich eine blinde, richtungslose Todesangst über Stephan. Wie ein Käfigvogel, der das Fliegen verlernt hat, taumelte er an einer verfallenen Mauer vorbei in das Gelände hinaus. Er geriet in einen verwilderten Obstgarten, dessen Gestrüpp ihn kaum losließ, keuchte über einen Abhang, der mit schlangenartigen Kriechreben bespannt war, stürzte, raffte sich hundertmal wieder auf, bis er endlich dieser Falle entkam. Dann war weiche Erde unter seinen Füßen, dann wieder eine Steinhölle. Plötzlich mußte er sich durch ein unüberwindliches Dickicht hindurchdrehn, das ihm Dornen und stahlscharfe Blätterschwerter entgegenstreckte. Er stolperte weiter, keines Gedankens, keines Zieles mehr fähig. Nun bekam er zu spüren, daß der Entari-Kittel der Bewegungsart seines Körpers nicht entsprach und ihn beim Laufen wie ein tückischer Feind hemmte. Seine Hände, seine Füße waren mit brennenden Rißwunden bedeckt, das Gesicht in Schweiß gebadet. Auf einer Lichtung sank er zusammen. Er wußte nicht, wo der Damlajik war, wo Yoghonoluk, wo er selbst. Eine kleine Ohnmacht nebelte ihn für zwei Minuten ein. Doch seine Kräfte kehrten schnell zurück. Die Todesangst zerrann und ein wunderbarer Gleichmut trat an ihre Stelle. Er streckte sich aus, wie zum Schlaf. Der überreiche Himmel der Augustnacht stand unbeweglich über ihm. Unter den Milliarden Sternen flimmerte keiner. Stephan war allein in und mit der ganzen Welt. Er wußte, daß Vater und Mutter ihm nicht helfen konnten. Das erstemal erlebte sein Kindergeist das Gefühl der Allverlorenheit, der erbarmungslosen Vernichtungsjagd im Raume, der mit zahllos eisigen Augen zusieht. Kinder reicher Leute, die im Mittelpunktswahn aufgewachsen sind, lernen niemals oder sehr spät erst dieses Gefühl kennen, das jedes verfolgte Tierchen überwältigt, wenn es, in eine Mulde geduckt, den Atem anhält. Es war ein gutes, ein sehr wohliges Gefühl. Stephan brauchte gar nicht an Iskuhi zu denken. Wenn man daliegt, so erdangeschmiegt, so weltanheimgegeben, dann kann auch das Schlimmste nicht allzu schlimm sein. Er starrte in den Himmel. Dort oben fing ein Atmen an, ein Lichtgewoge, ein Näherkreisen. Weich hob es Stephan auf und küßte ihn, weil er so schwach war, so wehrlos, verlassener als irgend etwas. Alle Wonne der Welt sammelte sich in einem einzigen Punkt und dieser Punkt lag mitten in ihm selbst. Er wußte nicht, was mit ihm geschah. Zum erstenmal im Leben ergoß sich sein Geschlecht. Er schlief ein, verschmolz mit der Erde, totenhaft.
    Stimmen in der Nähe weckten ihn. Die Saptiehs schienen ihre Jagd auf diesen Platz auszudehnen. Sie knallten ein paar Schüsse aus dem Gehölz. Dann wurde es still. Stephan glaubte nicht, daß sie abgezogen wären. Gewiß hatten sie ihn entdeckt und lauerten nur auf den Augenblick, wenn er sich erheben werde. Der Himmel war schwarz und ohne Mond; so lange hatte er vorhin geschlafen. Nur wenige Sterne sah man jetzt, verwischt und aufgesogen wie von einem Löschblatt. Der Raum war eng und eingesargt. Dem Knaben kam es vor, als läge er nicht auf dem Erdboden, sondern auf einem eklig elastischen Hügel von klebrigen Schnecken. Und doch, er durfte sich nicht rühren, nicht aufstehen, da die Saptiehs lauerten. Wenn er aber den Tag abwartete, dann war er doppelt und dreifach verloren. Endlich entschloß er sich, zuerst auf dem Bauch, nachher auf den Knien ein Stück vorwärts zu kriechen. Die Welt war voll gestaltloser Hindernisse. Vorsichtig richtete er sich auf. Unter seinen Füßen dehnte

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