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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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von ihm Besitz zu ergreifen. Sato kannte die Haupteigenschaft Nuniks. Wenn sie der gewaltigen Neugierde ihrer großen Freundin gehörige Nahrung zuführte, legte sie ein Kapital von Wohlwollen bei ihr an. Eine Mißachtete und selbst beim Abschaum nur Geduldete ist darauf angewiesen, eine flinke Agentin der menschlichen Begierden zu sein. Auch war es Sato bekannt, daß die alte Nunik einen besonderen Wissensdrang für alles hegte, was mit der Familie Bagradian zusammenhing.
    Als knapp vor Mitternacht Stephan und Hagop durch das offene westliche Gartentor den mit Sand bestreuten Hof und Freiplatz des Hauses betraten, da saßen die Klageweiber im hauchschwachen Viertelmond schon rundum unter den Bäumen und machten verzweifelte Zeichen. Die Krücke Hagops nämlich tappte und knirschte sehr laut im Sand. Stephan gab dem Krüppel einen leichten Stoß, damit er zu den Totenvögeln hüpfe.
    Es ist kaum begreiflich, daß solch ein empfindsames Kind wie der Bagradiansohn in dieser Minute von keiner Angst erfaßt wurde. Mochte er sich auch der Gefahr nicht voll bewußt sein, so hätte ihm doch die Nacht, seine Verlorenheit unter wildfremden Spukgestalten und der Anblick des Hauses, in dem die Mohadschirfamilie schlief, einen gewaltigen Schreck einjagen müssen. Dies aber war ja der krankhafte, der sinnverwirrte Zustand, den weder Gabriel noch Juliette an ihrem Knaben bemerkt hatten. Dem Anschein nach verwegen ohne Grenzen, konnte Stephan, als Opfer einer Sinneslähmung, nicht mehr genau zwischen dem Wachbild und dem Traumbild seiner Welt unterscheiden. Er trat langsam, fast schlendernd ins offene Haustor, als kehrte er von einem Spaziergang zurück. Die lockende Einbildung, es wäre nichts geschehen und alles beim alten geblieben, überfiel ihn mit solcher Macht, daß er in der Halle stehen blieb, ruhevoll in sich versunken. Dann erst knipste er die Taschenlampe an, in deren Licht ihn sein Vater einst im Schlafe betrachtet hatte, und stieg gelassen die Treppe zum Oberstock hinauf. Hier war alles noch unverändert. Kaum ein wenig Verwüstung und Verschmutzung machte sich bemerkbar. Die Plünderer hatten nur die leichteren Gegenstände fortgetragen, Schränke und Bettstellen standen auf ihrem alten Fleck. Stephan trat zuerst in sein Zimmer und starrte lange auf die windbeschäftigte Gartenlandschaft im ausgehängten Fenster und auf die schwarze Masse des Musa Dagh. Die Sinnverrückung ließ ihn wähnen, er wäre niemals dort oben gewesen, wo sich die Kammlinie des Damlajik gegen den mattscheinenden Himmel abzeichnete. Mama und Papa schliefen daneben in ihrem Zimmer, und ihm war, als sollte er sich selbst sogleich zu Bett begeben. Mühsam besann sich Stephan erst wieder seiner Aufgabe. Nicht um der Gefahr zu entgehen, sondern um Iskuhi nicht zu stören, schmiegte er sich auf Fußspitzen in ihr kahles Zimmerchen. Außerhalb des stumpfen Lichtkreises der Taschenlampe war es voll von ihr. Im Lichtkreis aber stand ein halb zerbrochener Stuhl wie ein verschmähtes Wesen. Und unter diesem Stuhl, besudelt und zerrissen, lagen ein paar Bücher. Auch die Konfirmationsbibel. Sie war unversehrt. Das Elfenbeinkruzifix fand sich nicht. Glückstrahlend drückte Stephan Bücher und Bibel an sich und lief mit lautpolternden Schritten über die Treppe hinab, durch den Flur und vors Tor. Die Gefährten warteten weit hinten im Schatten. Er aber, der sie nicht gleich sah, rief ihnen, in seiner Geistesbefangenheit völlig von Gott verlassen, mit kräftiger Stimme zu:
    »Hagop, Sato! Wo seid ihr? Da seht her! Ich habs!«
    Der Hall dieser Worte in der leeren Wölbung der Nacht war so laut, daß es sich oben auf dem Dache des Hauses sofort zu regen begann. Gestalten schwankten auf. Ein Baß grölte etwas hinunter. Dann keiften Weiberstimmen dazwischen. Der Hexenkreis am Rande des Freiplatzes stob auseinander und davon. Man hörte Hagops Krücke eifrig den Boden klopfen. Stephan verblieb noch immer wie gelähmt auf dem hellsten Platz des Vorhofs. Der kleine Lichtpunkt der Taschenlampe glomm still in seiner Hand. Erst als die Peitschenhiebe der Gewehrschüsse um seine Ohren pfiffen und es im Innern des Hauses zu rumoren begann, riß er sich von sich selbst los und begann in großen Sprüngen zu fliehen. Doch wohin? Es zeigte sich nun, wie tief Stephan, das Kind der Avenue Kléber, den Söhnen dieser Ost-Erde trotz all seiner ehrgeizigen Bemühungen unterlegen war. Während sogar der einbeinige Hagop mit seiner klappernden Krücke spurlos im

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