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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Nachbarschaft in die armenischen Obstgärten eingebrochen, um eine gute Ernte heimzuführen, von der nur unreifer oder verfaulter Abfall zur Nachfechsung zurückgeblieben war.
    Weit tollköpfiger und überflüssiger jedoch war die andre Geschichte, die Stephan kurz nachher ausheckte. Es wäre übrigens falsch, in ihr einen heroischen Mutbeweis zu sehen. Der Junge hatte keine Vorstellung von der Gefahr, in die er sich begab. Dies zeigte schon die unbegreifliche Torheit, daß er niemand anderen als den Krüppel Hagop zum Hauptgefährten seiner Tat erwählte. Haik sollte erleben, wie wenig Stephan seiner bedurfte. Das war das Wichtigste.
    Der Bagradiansohn hatte jene Altersgrenze schon erreicht, jenseits derer der werdende Mann sich nicht nur gegen seine Säfte behaupten muß, sondern auch gegen ein Riesentrugbild der Welt, das ihn in jeder Minute die Nichtigkeit seines kaum erwachten Selbst würgend fühlen läßt. Das Fieber der eigenen Entwicklung kreuzte sich unheilvoll mit dem allgemeinen Fieber auf dem Musa Dagh. Die Kameraden, diese Dorfrangen, waren harthäutige Felsgewächse oder spürsame Bergtiere. Mit vier Jahren schon völlig geprägt, wuchsen sie gleichmäßig heran, erlebten wenig Übergänge und keine Verwirrungen, um ihre Prägung, ein wenig abgegriffen und verwischt zuletzt, bis zum Tode zu bewahren. Stephan hingegen trug die Erbschaft entfernter Völker in sich, den Hochstand und Nervenverbrauch von drei überanstrengten Generationen, seine europäische Kindheit und als schwerste Last eine gierige Seele, die nie und nirgends Ruhe fand. Seine Mutter sah wohl, wie er abmagerte, wie in seinem Gesicht die Schatten wuchsen. Was aber sollte sie tun, woher die gewohnte Nahrung für den Jungen nehmen? Manchmal zog sie ihn in ihr Zelt, und er mußte trotz wütenden Protests mehrere große Gläser Milch hinabwürgen. Dann wieder kümmerte sie sich tagelang nicht um ihn. Wie lange werden wir alle noch leben? Diese Frage stellte sie sich oft, doch es war keine ganz aufrichtige Frage, denn Juliette konnte es sich gar nicht vorstellen, daß irgend jemand, und sei es der blutrünstigste Saptieh, ihr auch nur die Haut ritzen werde. Dennoch war es ihr sehr angenehm, so zu fragen, da alles damit gleichgültig wurde und ihrer Sehnsucht, sich fallen zu lassen, entgegenkam. Die Verstörung ihres Wesens machte immer größere Fortschritte.
    Stephans toller Streich entstand aus folgendem Anlaß:
    Iskuhi Tomasian klagte öfters darüber, daß sie in der Verwirrung des Aufbruchs dasjenige vergessen habe, was sie nun am schmerzlichsten vermisse: Drei oder vier Bücher, Lieblinge, darunter ihre Konfirmationsbibel, ferner ein Elfenbeinkruzifix, beides Arams Geschenke. Sie hatte diesen Schatz aus dem Zusammenbruch von Zeitun gerettet und während jener furchtbaren Verschickungstage immer mit sich getragen. Jetzt aber – sie konnte es sich selbst nur mit ihrer körperlichen Gehemmtheit ungenügend erklären – waren Bücher, Bibel und Kruzifix in der Villa Bagradian zurückgeblieben. Sie litt sehr unter diesem Verlust, den sie als Kränkung ihres Bruders empfand.
    Nicht nur Sato zog es leidenschaftlich in Iskuhis Nähe, auch Stephan versäumte keine Gelegenheit, sich an sie heranzupirschen. War aber das Waisenhausmädchen mit ihrem glucksenden »Kütschük Hanum«, mit ihrem fröstelnden Sehnsuchtsgesumm und den lüsternen Schmutzkrallen unabwendbar zudringlich wie eine herbstliche Schmeißfliege, so setzte sich Stephan in verehrungsvollem Abstand auf den Boden und verschlang Fräulein Tomasian mit stummen Blicken: Ging er dann fort, so war er vollgetrunken von seligem Unglücklichsein. Ihr herrliches Bild bewegte sich in seinem Geist. Ein paar gelöste Haare wehten ihr in die Stirn. Die Lippen mit dem feuchten Pupillenglanz standen staunend offen. Sie bedeckte den kranken linken Arm mit der Rechten, als schäme sie sich. Ihre kleinen Brüste atmeten sichtbar, und schutzbedürftig still sahen die Fußspitzen unter dem Kleid hervor. Das Herzbetörendste aber war es, wenn sie in seiner Phantasie zu ihm ans Bett in das Scheichzelt trat und sang. Besonders jenes Lied, das sie persönlich an ihn richtete, konnte er nicht satt bekommen:
    Sie kam aus ihrem Garten
Und hielt an ihre Brust gepreßt
Zwei Früchte des Granatbaums …
    Aber nicht die Worte waren es, sondern ihre Stimme, die ihm wie ein streichelnder Schauer über die Haut lief. Früher hatte er Mama so sehr geliebt, doch was war Mama jetzt gegen Iskuhi, wenn man an

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