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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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auf der gare de l’Est eingetroffen und barfuß, halbnackt, nur mit einem tscharschaffartigen Schlafrock bekleidet, durch hundert endlose Gassen in Mamas Wohnung gerannt. Die Sterbende aber wandte mit großer Kunstfertigkeit ihr starres Gesicht von der Tochter ab, wie diese sich auch drehte und wendete, um einen Blick zu erhaschen. Doch nicht nur Mutter und Schwestern, sogar die beiden Schwäger, der eine, Beamter im Marineministerium, der andre, Ingenieur, spielten eine gekränkte und ablehnende Rolle, zu der sie als schwerverwundete Reserveoffiziere das volle Recht hatten. Pensionatsfreundinnen tauchten auf, die Juliette schnitten, obgleich sie sich vor ihnen auf die Knie warf. Dann und wann erschien der tote Vater, fein wie immer, im schwarzen Gehrock mit schwarzen Glacéhandschuhen, das rote Bändchen im Knopfloch. Er sah Juliette erstaunt an und wiederholte seine Lieblingswendung immer wieder: »So etwas tut man nicht.«
    Je schlimmer aber die Nächte waren, umso pünktlicher kam Juliette zur Arbeit. Sie wollte gar nicht »menschlich« sein, wie Gabriel ihr geraten hatte, sie wollte nur ihre Alleinheit, ihre Verlorenheit überwinden. Mit großer Hingabe diente sie. Ihre Geruchsnerven besiegend, kniete Juliette neben die Kranken hin, zu diesen halbbewußtlosen Alten auf ihren groben Decken, sie entblößte ihre fiebernden Körper, befreite sie vom Schmutz, wusch ihnen die entstellten Gesichter mit den Toilettewässern, die sie noch besaß. Sie opferte in diesen Tagen viel. Einen Teil ihrer eigenen Wäsche gab sie hin, aus ihren Bettlaken ließ sie Windeln für Säuglinge und Wickel für die Kranken zuschneiden. Für sich selbst behielt sie nur das Notwendigste. Doch wie sich Juliette auch bemühte, in den stumpfen Fischaugen der Fiebernden und in den abweisenden Augen der Gesunden war keine Dankbarkeit, ja nicht einmal Anerkennung für sie, die Fremde, zu lesen. Selbst Gabriel fand kein Wort des Lobes für sie. Vor zehn Tagen noch so ritterlich um seine Frau bemüht, war sie auch für ihn nun zum überflüssigen Ballast geworden. Und in dieser Verlassenheit mußte sie sterben, einsamer und ärmer als der Ärmste hier oben auf dem Musa Dagh.
    In solchen Stunden des überschwellenden Selbsterbarmens verhehlte Juliette geflissentlich vor ihrem eigenen Herzen, daß sie durchaus nicht so ganz verlassen war. Gonzague Maris wich nicht von ihrer Seite, seitdem er die unselige Verlorenheit in ihren Augen bemerkt hatte. Er verdoppelte seinen aufmerksamen Dienst und sprang ihr helfend bei, wo und wie er nur konnte. Juliette sah mehr denn je in ihm den Sohn einer französischen Mutter, den Kulturmenschen ihresgleichen, einen entfernt Verwandten. Seit den letzten Tagen aber war die gute Vertraulichkeit zwischen ihnen durch irgend etwas gefährdet, nicht nur von seiner Seite, sondern auch von ihrer. Die Grenze hatte er nach wie vor nicht überschritten. Doch ließ er sie zum erstenmal ein Begehren spüren, ohne die Ehrerbietung auch nur im leisesten zu verletzen. Dieses An-der-Grenze-sein, diese Nähe ohne Berührung brachte Juliette neue Verwirrungen. Sie mußte viel an Gonzague denken. Dazu kam, daß er ihr trotz der französischen Mutter noch immer recht unheimlich war. Menschen, die sich stets in der Hand haben, Menschen, die unendlich lang warten können, sind unheimlich. Auch gehörte Gonzague zu denjenigen, welche in der Erregung nicht rot, sondern bleich werden.
    Die Veränderung aber hatte damit begonnen, daß Gonzague Maris von einem Tag zum anderen jene verschwiegene Reserve verlor, die Juliette nie hatte begreifen können, und ihr von seinem Leben zu erzählen begann.
     
    Juliette blieb jeden Morgen drei oder vier Stunden im Lazarettschuppen, solange zumeist, bis die Kranken ihr Mittagessen bekommen hatten. Um diese Zeit wurde sie gewöhnlich von Gonzague Maris abgeholt. War sie noch nicht fertig, so wartete er. Seine aufmerksamen Augen lagen unablässig auf ihr. Sie fühlte sich von diesen Augen umhegt. Und es war auch so. Denn wenn sie sich, nicht ohne eine leichte Absicht, allzulange verwirtschaftete, trat er zart an sie heran und flüsterte:
    »Jetzt ist es genug! Lassen Sie die Dinge stehn, Juliette! Sie sind zu gut für solche Arbeit. Sie wird Ihnen schaden.«
    Mit sanfter Entschiedenheit zwang er sie dann, den Krankenort zu verlassen. Sie ging gerne mit ihm. Da Gonzague keiner Pflicht unterworfen war und eine solche vom Führerrat auch nicht erbat, hatte er seine Zeit dazu benützt, auf der Meerseite des

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