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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Damlajik einige wunderschöne Naturwege, Aussichtspunkte und Ruheplätze zu entdecken. Sie seien ebenso schön, behauptete er, wie dergleichen berühmte Örtlichkeiten an der Riviera. Juliette und Gonzague saßen jetzt täglich zu den verschiedensten Stunden auf den luftigen oder geschützten Sitzen, auf den freien oder schattigen Felsvorsprüngen dieser Riviera, die sich, durch ein breites Gürtelband der Myrten-, Rhododendron- und Arbutusbüsche von der Hochfläche getrennt, in einer langen auf- und absteigenden Linie am Rande der Riesenmauern hinzog, mit denen der Küstenberg ins Meer stürzt. Beide fühlten sich unendlich allein. Denn wer wollte sie, die Fremden, vermissen?
    An diesem Tage, dem vierzehnten des August und dem fünfzehnten des Musa Dagh, schien Gonzague Maris ein ganz andrer zu sein als sonst. Juliette hatte ihn noch nie so traurig gesehn, so knabenhaft melancholisch, so ziellos beschattet. Seine Augen – in denen keine Weite lag, selbst wenn sie ins Weite sahen – ließ er, wie Juliette annahm, ins Endlose schweifen. In Wirklichkeit aber richtete er seinen Blick auf einen ganz bestimmten Punkt, der freilich durch eine vorgelagerte Bergnase verdeckt war. Seine Gedanken suchten die Mündungsebene des Orontes mit den großen, in der Sonne blitzenden Gebäuden der Spiritusbrennerei. Juliettens Frage, die ihrem, nicht seinem Zustand entsprach, war daher sehr verfehlt:
    »Haben Sie Heimweh, Gonzague?«
    Er lachte kurz auf, und sie verspürte beschämt den peinlichen Unsinn ihrer Worte. Sie gedachte seines Lebenslaufes, den ihr Gonzague in einigen Bruchstücken mit leicht wegwerfender Ironie erzählt hatte, als sei er daran nur halb und nicht einmal mit seinem besten Wesensfragment beteiligt: Der Vater, ein Bankier in Athen, hatte eine französische Gouvernante zu seiner Mutter gemacht. Als das Kind noch nicht vier Jahre alt war, kam es zu einer Katastrophe. Papa entwischte nach Amerika und ließ die Mutter mit Kind und ohne Geld zurück. Mama aber, die für den Durchgeher noch immer Liebe empfand, reiste unter großen Schwierigkeiten mit dem kleinen Gonzague hinüber. Dort gelang es ihr zwar nicht, den richtigen Mann stellig zu machen, doch bei der Jagd fand sie schließlich einen andern. Es war ein älterer Schirmfabrikant aus Detroit, der Mama heiratete und den Knaben adoptierte. »Ich kann deshalb«, gestand Gonzague, »mit vollem Rechte zwei Namen verwenden. Aber ich finde, daß der Name Gonzague MacWawerley bei meinem Äußeren sehr unwahrscheinlich klingt, ich bleibe deshalb bei Maris.« Er begründete diese Namenswahl mit großem Ernst. Der armen Mutter Gonzagues war in der Ehe mit dem Schirmfabrikanten kein dauernder Segen beschieden. Die Gemeinschaft wurde getrennt, sie mußte das Haus in Detroit verlassen und Gonzague wanderte von Internat zu Internat, bis er fünfzehn Jahre alt war. Um diese Zeit lernte er durch Schicksalsfügung seinen wahren Vater kennen, der es wieder zu einem bescheidenen Vermögen gebracht hatte. Der alte Mann kämpfte mit Gewissensbissen, da Gonzagues Mutter auf der Armenabteilung eines New Yorker Hospitals gestorben war. Er schickte den Sohn mit etwas Geld nach Athen zu seinen Verwandten. Von den nächsten Jahren erzählte Gonzague nur in der trockensten Kürze. Sie seien weder gut noch schlecht und schon gar nicht interessant gewesen. Erst sehr spät, nach einer elenden Kindheit und abscheulichen Jugend, habe er sich in Paris selbst gefunden; das heißt, er habe in sich einige mäßige und recht gewöhnliche Gaben entdeckt, mittels derer er jedoch immerhin befähigt sei, sich durch die Welt zu schlagen. Seit Jahren lebe er in der Türkei, nachdem er durch die Hilfe väterlicher Verwandten den Weg nach Stambul und Smyrna gefunden habe. In Stambul bediene er die Korrespondenten amerikanischer Zeitungen mit Berichten und Lebensschilderungen aus der inneren Türkei. Er studiere aber auch, wenn es ihm nicht gerade glänzend gehe, bei kleinen italienischen Operngesellschaften und Wiener Operettentruppen die Chöre ein. Zuletzt habe er sich sogar einem Kabarett-Manager aus Pera als Klavierbegleiter verdungen, um bei der Kunstreise eines Häufleins abgetakelter Chansonetten und Tänzerinnen in der dunkelsten Türkei mitzuwirken.
    Dies alles klang völlig wahrhaftig. Was hätte auch an all den trüben und banalen Dingen erlogen oder aufgeschnitten sein sollen? Gonzague hatte diesen dürftigen Abriß seiner Lebensschicksale so nachlässig zu Wort gebracht, als stünden sie

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