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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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weit gebracht, damit ich die Schuldige sei. Im nächsten Augenblick flossen die Abwehrkräfte in sich zusammen, denn Gonzague hielt Juliette an seine Brust gepreßt und küßte sie wieder. Die Kopfschmerzen zergingen in unerträgliches Glück. Purpurne Finsternis, und fern in ihr ein letzter dünner Lichtspalt des Entsetzens: Ich bin verloren. Denn jetzt erst, in seinen Küssen, wurde dieser verhaltene junge Mensch, dieser zart dienende Begleiter zu dem wahren Gonzague: Nicht mehr ein adrettes Kind des Nichts, sondern eine ungeahnte Kraft, glücklich und unglücklich zu machen. Sein Mund sog aus ihr das Geheimnis, das sie selbst nicht kannte, beseligend und rachsüchtig.
    Er ließ sie erst los, als das furchtbare Schreien anhob. Sie fuhren erschrocken auseinander. Eine Herzschwäche drohte Juliettens Atem zu ersticken. Meine Haare sind aufgegangen, dachte sie und versuchte ihre Hände zu heben, als wären es schwere Werkzeuge. Was ist los? Er stützte sie. Sie gingen in die Richtung, woher das höllische Geschrei kam. Nach wenigen Schritten schon erkannte er es:
    »Die Esel des Lagers! Sie sind toll geworden.«
    Und tatsächlich, als Gonzague und Juliette zum nahen Pflockplatz der Pack- und Reittiere kamen, hatten sie ein Bild wie aus einem wüsten Traum vor sich. Die braven Esel schienen in wilde Fabelwesen verwandelt zu sein, rissen an den Halftern, stiegen hoch, tanzten auf den Hinterbeinen und schlugen nach allen Seiten aus. Schaum troff aus ihren Lefzen, ihre Augen waren verglaster Schreck. Auch die langen Laute, die sie ausstießen, glichen eher einem trillernden Gewieher als dem ärmlichen Auf und Ab der Eselsprache. Ein Wahnsinnsphantom schien die Kreaturen in Angst versetzt zu haben. Es war kein Wahnsinn. Der Tier-Instinkt hatte die Wirklichkeit knapp vor ihrem Eintreten vorausgefaßt. Fern, jenseits des Nordsattels dröhnte ein breiter Schlag, nach einigen Atemzügen begann oben etwas näher zu rauschen, dann folgte ein kurzer scharfer Knall und südab von der Stadtmulde stand in mäßiger Höhe eine schneeweiße Wolke. Die Esel schwiegen jäh. Ein sanftes Winseln und Flöten versäuselte ringsum. Die Menschen stürzten aus den Laubhütten. Nur die wenigsten wußten, was vorging, und daß dieses feine Wölkchen über dem Berg eine Schrapnellwolke war.
    Das Geschützfeuer überraschte auch Gabriel Bagradian im Lager. Er war müde, da er in der letzten Nacht kaum geschlafen hatte. Immer wieder waren beunruhigende Meldungen von den einzelnen Abschnitten eingetroffen. Ohne Zweifel trieben sich in den zwei letzten Nächten türkische Späher vor den Stellungen umher und versuchten, durch die Postenkette zu schlüpfen. Bagradian hatte daher für die kommende Nacht die große Bereitschaft anbefohlen und einen ständigen Patrouillendienst eingesetzt. Als er gegen Mittag auf der Bank seines Hauptquartiers saß, um sich einen Augenblick auszuruhen, wurde er von einem qualvollen Wachtraum heimgesucht. Juliette lag tot auf dem breiten Bette des Pariser Schlafzimmers, und zwar querüber. Sie war mehr als tot, sie war gefroren, ein einziges Stück mattfleischfarbenen Eises. Um die Leiche seiner Frau aufzuschmelzen, sollte er sich neben sie legen …
    Mühsam schüttelte er diesen Tagmahr ab. Es war klar, er benahm sich schlecht zu Juliette. Aus Feigheit wich er ihr aus, Gott weiß wie lange schon. Wenn sein Amt und sein Leben ihm jetzt auch keine Minute frei ließ, so war dies doch nicht der Grund, der seinem Gewissen standhalten konnte. Er entschloß sich daher, bis heute abend das Kommando an Nurhan Elleon abzugeben, um den Nachmittag mit Juliette zu verbringen. Im Zelt fand er sie nicht. Iskuhi trat gerade aus dem ihren. Bruder Aram war bei Howsannah. Sie wollte das Ehepaar nicht stören. Gabriel bat Iskuhi, bei ihm zu bleiben, bis Juliette heimkehre. Sie ließen sich auf den kurzgemähten Grasboden des Dreizeltplatzes nieder. Gabriel dachte angestrengt nach, was sich an Iskuhi so auffallend verändert haben könne. Ja, das war es, sie trug nicht mehr eines der Kleider, die ihr Juliette geschenkt hatte, sondern ein weites, großgeblümtes Gewand aus hellem, leichtem Stoff mit hoher Taille und Puffärmeln, das einen altmodischen Eindruck machte und auch der einheimischen Frauentracht nicht glich. Iskuhis zerbrechliche Gestalt war ihm früher oft arm und abgehärmt erschienen. Das bauschige Kleid aber verlieh ihr eine zarte schwebende Fülle und verbarg den gelähmten Arm. Noch nie habe ihr ernstes Gesichtchen so frei

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