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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Verteidigungswälle gegen den Tod errichtet, doch innerhalb dieser Wälle fühlte sich das Volk oft ganz unbegreiflich sicher und so geborgen, daß es in lächerliche Streitigkeiten verfiel, daß es am Abend sang und tanzte. Unüberwindbar blieben die Bedingungen des Lebens. Eine Rückkehr ins Tal gab es nicht, in die paradiesische Vorzeit, aus der diese kleine Menschheit, ohne ihre Schuld zu kennen, durch einen grausamen Befehl der höchsten Regierungsstelle verjagt worden war. Rückkehr gab es nicht, dafür aber gab es vortreffliche Männer, die eine gütige Fügung dem Volke in seiner Not geschenkt hatte. Diese hervorragenden Persönlichkeiten, diese unerschrockenen Führer machten sich die Bedingungen des Mosisberges bis zu einem gewissen Grade dienstbar, so daß zutrauliche Gemüter in freundlichen Stunden hoffen konnten: Das Schicksal wird am Ende nicht unsere Führer, sondern unsere Führer werden am Ende das Schicksal unterwerfen.
    In der Mitte der Ansiedlung erhob sich der Altar. Wenn zur Zeit der letzten Nachtwache, eine Stunde vor dem Morgengrauen, die verblassende Milchstraße über ihm kreiste, als sei er Mitte und Nabel des Alls, dann kniete Ter Haigasun, sein Priester, manchmal auf der obersten Stufe, den Kopf aufs offene Meßbuch gepreßt. Ter Haigasun war ein lebenserfahrener, skeptischer Mann. Gerade darum aber sammelte er die Mächte des Gebetes so leidenschaftlich in seiner Brust. Wenn keiner mehr an Rettung glaubte, so mußte er als Einziger und Letzter durchdrungen sein vom kommenden Wunder, von der Gewißheit des Heiles und dem bergeversetzenden Glauben an die Erlösung vom Tode. Um diesen bergeversetzenden Glauben an ein Paradoxon, angesichts des hiesigen Lebens unbegreifbar, rang die Seele Ter Haigasuns im einsam schamhaften Gebet.
     
    Juliette hatte sich zu einer gänzlich neuen Lebensführung aufgerafft. Sie erhob sich jetzt knapp vor Sonnenaufgang, kleidete sich schnell an, um Mairik Antaram bei der Milchverteilung zu helfen und so früh wie möglich unter den Kranken im Lazarettschuppen zu sein. Was sie leistete, war noch immer keine Tat des Erbarmens, sondern etwas weit Schwierigeres, ein Versuch, sich dem Ganzundgar-Fremden unterzuordnen und einzugliedern. Es gab keine andere Möglichkeit für sie. Gabriel hatte recht gehabt. Niemand kann gewissermaßen als Ausländer von Distinktion unverbunden und unverbindlich in einer menschlichen Gemeinschaft hausen, die den Tod erwartet.
    Ein oberflächlicher Menschenbeobachter könnte sich hier leicht wider Juliette verhärten: Was wollte denn diese Hochnäsige? Worauf eigentlich war sie so eingebildet, daß sie sich nach fünfzehnjähriger Ehe noch immer gegen die Welt ihres Gatten sträubte? Lebte nicht jetzt in derselben Stunde so manche europäische Frau in diesen Ländern, die mit Heldenmut ihr Leben dem gemordeten und geschändeten Armeniervolke weihte? Gab es nicht eine Karen Jeppe in Urfa, die in ihrer Wohnung die Flüchtlinge versteckte und mit ausgebreiteten Armen die Tür vor den Saptiehs schützte, bis sie abzogen, denn eine Dänin abzuschlachten wagten sie doch nicht. Reisten nicht deutsche und amerikanische Diakonissinnen unter den schwersten Strapazen bis nach Deïr es Zor und in die Wüste hinein, um den verhungernden und umherirrenden Frauen und Kindern der Ermordeten ihre schwache Hilfe zu bringen? Und diese Frauen waren mit keinem Armenier-Mann verbunden und hatten keinen Armenier-Sohn geboren. Solche Vorwürfe scheinen zu treffen, sind aber dennoch ungerecht. Juliette war viel zu unselig, um kalt und überheblich zu sein, sie war der Mensch auf dem Musa Dagh, der über das allgemeine Leiden hinaus noch tief unter sich selbst litt. Als Französin war ihr eine gewisse Starrheit angeboren. Die Romanen sind bei all ihrer äußeren Geschmeidigkeit innerlich unbeweglich und abgeschlossen. Sie sind formvollendet. Sie haben ihre Form vollendet. Mögen die Nordländer noch immer wie Wolkengebilde voll Spannung und Verwandlung sein, die Franzosen lieben es im allgemeinen, weder aus ihrem Land, noch aus ihrer Haut zu fahren. Juliette teilte diese Starrheit ihrer Rasse in hohem Maße. Ihr fehlte die Einfühlungskraft, die zumeist ein Kind der formlosen Unsicherheit ist. Hätte Gabriel von Anfang an den stetigen Willen gehabt, sie mit vorsichtiger Hand seiner Stammeswelt entgegenzuführen, vielleicht wäre alles anders geworden. Doch Gabriel gehörte ja selbst zu den Parisern, zu den Assimilanten, die von Armenien als von einer klassisch

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