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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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vornehmen, aber ein wenig unwirklichen Sache sprachen. Der spärliche Verkehr mit Armeniern, die bewegten politischen Gespräche im türkischen Revolutionsjahr, die Aufnahme Samuel Awakians ins Haus, dies alles reichte nicht hin, um einer Frau wie Juliette eine rechte Vorstellung von den Dingen zu geben, geschweige sie auf die eigene Seite herüberzuziehen. Sie wußte fünfzehn Jahre lang im Grunde nicht mehr, als daß sie einen ottomanischen Staatsbürger geheiratet hatte, doch was es heißt, Armenier sein, welche Schicksale und Pflichten es mit sich bringt, das war ihr erst vor wenigen Wochen schreckhaft bewußt geworden. Die Schuld an Juliettens Verwirrung lag demnach zum großen Teil in Gabriel selbst. Nun rächte sich an ihr seine liebende Schwäche, die immer die Überlegenheit der Französin anerkannt und mit größtem Zartgefühl ihr die Schärfen der Blutsverschiedenheit ferngehalten hatte. Doch warum hätte er sich in Paris anders verhalten sollen, war er doch selbst erst durch die Zwangslage in Yoghonoluk zu seinem Armeniertum erwacht? Er mußte jetzt oft an die Worte des Agha Rifaat Bereket denken: »Du hast sie geheiratet, und folglich bleibt sie dem Karma deines Volkes verfallen.« Juliette war wirklich diesem Karma verfallen, denn angenommen, sie hätte sich ohne Gabriel und Stephan gerettet, wäre sie nicht ebenso unglücklich oder unglücklicher gewesen als jetzt?
    Gabriel und Stephan, die einzigen Menschen, die sie auf der Welt besaß, waren ihr nah und waren ihr doch so ferne, als ob das Weltmeer zwischen ihr und ihnen läge. Sie kümmerten sich kaum um sie, sahen sie mit heimlicher Strenge an. Keiner von beiden konnte ihr Liebe zeigen. Sie liebten sie nicht. Und die andern alle? Das Volk haßte sie. Juliette spürte es an den erstarrten Gesichtern, an dem jähen Schweigen, so oft sie ins Lager kam. Die Mißgunst der Weiber verbrannte ihr den Rücken, wenn sie an den tratschenden Gruppen vorüberging. Die Muchtarin Kebussjan, diese Spionin, mochte ihr schöntun, so viel sie wollte, Juliette spürte, daß man ihr alles übelnahm, sowohl ihre Absonderung, als auch ihren Pflegedienst, vor allem aber den Dreizeltplatz, über dessen märchenhaft reiche Versorgung mit allen Leckerbissen und Glücksgütern der Welt die gierigsten Gerüchte umzugehen schienen. Fremdenhaß und lächerlicher Neid folgten ihr in allen Blicken, davon war Juliette überzeugt. Was hatte dagegen der Snobismus von zwei Narren wie Schatakhian oder Oskanian zu bedeuten, die sich in ihrer Gegenwart teils durch zutunliches Geschwätz, teils durch überhebliches Schweigen wichtig machten? Gut zu ihr war bloß Mütterchen Antaram. Doch diese Güte genügte ihr nicht. Sie kam nur aus dem Mitleid eines großen Frauenherzens, das sich der Not bedrängter Schwestern erbarmte. Und Iskuhi? Zwischen der Älteren und der Jüngeren hatte sich eine hilfsbereite Freundschaft angebahnt. Und doch, gerade Iskuhi war die Fremdeste der Fremden, sie war mehr als alle Volksfrauen der Mittelpunkt des Unüberwindlich-Andern. Juliette erlebte in diesen Tagen eine unbeschreibliche Verlorenheit. Sie, die Herrschende und Glänzende, die immer Wärme, immer Bewunderung hervorgerufen hatte, nun war sie nur geduldet und, schlimmer, nicht geachtet. Sie wähnte, unter der allgemeinen Mißgunst täglich häßlicher zu werden. Sie vernachlässsigte ihr Gesicht, sie pflegte ihre Erscheinung nicht mehr, weil sie sich der gewohnten Sorgfalt schämte und die Müdigkeit sie niederzog. Verfolgungswahn! Die Armenieraugen ringsum schienen sie anzuklagen und ihr allein die Schuld zu geben. Aus dem allen aber wuchs eine neue Qual: Frankreich! Die Kriegsnachrichten, die bis in das Tal des Musa Dagh gedrungen waren, stammten sämtlich aus türkischen Zeitungen und lagen viele Wochen, ja Monate zurück. Juliette wußte also nur von Niederlagen Frankreichs, sie wußte, daß die feindlichen Armeen im Herzen ihrer Heimat standen. Sie, die sich stets nur um die eigenen Angelegenheiten gekümmert hatte, sie, die von Politik und allgemeinen Schicksalen immer gelangweilt und unberührt geblieben war, sie wurde nun auf einmal durch zehrende Sorgen um das Vaterland überwältigt. Ihre Mutter, mit der sie sich so wenig verstand, ihre Schwestern, mit denen sie so gut wie zerworfen war, kamen ihr im Traume jetzt unendlich nah, ja sie beherrschten ausschließlich ihre Nächte in dem kleinen Zelt. Die Mutter lag immer wieder auf dem Sterbebett. Juliette war mit einem heimtückischen Bummelzug

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