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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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tief unter ihm, als seien sie die niedrige Voraussetzung für sein eigentliches Leben, von dem nur seine Augen sprachen, wenn sie auf Juliette lagen. Sie glaubte an die Wahrheit des Erzählten und dennoch kam es ihr auswechselbar vor. Eine Sekunde lang durchzog sie der Argwohn, daß Gonzague wahrscheinlich für jede Frau jeweils eine andre, aber ebenso farblose Vergangenheit besitze.
    »Wieviele Frauen«, forschte sie, »waren bei der Künstlertruppe, die Sie bis Alexandrette begleitet haben?«
    Die Erinnerung an diese Truppe schien für ihn so lästig zu sein, daß er die Frage fast mürrisch beantwortete:
    »Achtzehn oder zwanzig werden es gewesen sein.«
    »Es waren doch gewiß auch junge und hübsche darunter. Ist Ihnen eine nahe gestanden, Gonzague?«
    Er schüttelte eine solche Zumutung erstaunt ab:
    »Artisten führen ein ernstes und nüchternes Leben. Und für Kokotten bedeutet die Liebe eine Arbeitsleistung, die sie nicht überflüssig verschwenden.«
    Juliettens Neugier gab so schnell nicht nach:
    »Sie haben sich einige Monate lang in Alexandrette aufgehalten. In einer kleinen schmutzigen Hafenstadt …«
    »Alexandrette ist gar nicht so lächerlich wie Sie meinen, Juliette, es gibt dort einige sehr kultivierte armenische Familien mit schönen Häusern in großen Gärten …«
    »Ach so, ich verstehe, eine dieser Familien war der Grund Ihres langen Aufenthaltes …«
    Gonzague leugnete nicht, daß er für eine junge Dame in Alexandrette Neigung gefaßt und daher seinen Vertrag mit der Varieté-Gesellschaft gebrochen habe. Juliette sah merkwürdigerweise bei Erwähnung jener Dame Iskuhi vor sich, doch aufgeputzt, geschminkt und mit Schmuck behangen, was zu ihrem Bild ja gar nicht paßte. Gonzague enthielt sich jeder weiteren Schilderung seines Erlebnisses und erklärte, die Geschichte sei ein Irrtum gewesen und nun versunken und vergessen. Nur einen einzigen Zweck habe sie gehabt, ihm über Beilan den Weg nach Yoghonoluk zu weisen, den Weg in die Villa Bagradian.
    Wenn Juliette das Sein und Haben Gonzagues überdachte, so kam ihr die eigene Verlorenheit nicht mehr so grausam vor. Gab es ein raffinierteres Nirgendhingehören als das seine? Wie unter einem Glassturz von Öde und Liebesverlassenheit saß er traurig neben ihr. Er hatte sich entschlossen, an Juliettens Todesschicksal bescheiden teilzunehmen, ohne Wimperzucken, ohne Dank zu fordern, als handle es sich nur um eine kleine Galanterie, die nicht der Rede wert ist. Und dabei hatte Gonzague noch hunderttausendmal weniger hier zu suchen als Juliette. Wie störte sie das Wort »nostalgie«, das sie vor einer Weile ausgesprochen hatte! Wonach sollte dieser Arme denn Heimweh empfinden? Vor seinen Blicken lag nur das Leere. Jetzt begriff Juliette, warum der junge Mensch, der sich eines mikroskopischen Gedächtnisses rühmte, gar keine oder auswechselbare Erinnerungen hatte. Dieser junge Mensch, der ihr mit angespannter Zurückhaltung so viel liebende Sorgfalt erwies, hatte selbst niemals Liebe empfangen. Knabenhaft saß er neben ihr auf einem glatten Felsblock, ganz dicht, von der Schulter bis zum Knie; doch er berührte sie nicht, er ließ noch immer eine Ahnung von leerem Raum zwischen sich und ihr. Dieser messerscharfe Abstand der Tugend und Selbstüberwindung brannte fast. Gonzague schwieg. Doch in Juliettens Herzen ging ein sehr gefährliches süßes Mitleid auf. »Gonzague?« fragte sie und erschrak vor dem Gesang in ihrer Stimme. Langsam wandte er sich ihr zu. Es war wie Bestrahlung. Sie nahm leise seine Hand. Nur um sie zu streicheln. Doch dann konnte sie nicht anders. Ihr Gesicht, ihr Mund schob sich vor. Auch Gonzagues Augen erloschen. Eine letzte wartende Aufmerksamkeit verzuckte in ihnen, dann starb der Blick. Er ließ Juliette ganz nahe kommen, ehe er sie mit einem plötzlichen Ruck an sich riß. Sie wimmerte leise unter seinem Kuß. Die Jugend der treuen Frau war vorübergegangen und sie hatte nicht erfahren, wieviel fremde Wollust in ihr erweckbar war. Sofort aber entstand ein Schmerz, der ihr den Kopf zersprengen wollte. Es war der gleiche, beinahe hypnotische Kopfschmerz wie damals, als Gonzague das erstemal im Empfangszimmer von Yoghonoluk so düster Klavier gespielt hatte. Sie stieß den Mann zurück, um ihre Abwehrkräfte zu sammeln. Ein Gedanke wuchs auf: Nicht er hat meine, sondern ich habe seine Hand genommen. Nun bin ich in seiner Hand. Hinter diesem Gedanken schoß ein zweiter höher: Er hat mich seit Wochen mit voller Absicht so

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