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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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geleuchtet, dünkte es Gabriel, wie unter dem breiten Seidenshawl, den sie über den Kopf geworfen hatte, um sich vor der Sonne zu schützen. Er sah mit Erstaunen, daß Iskuhi einen ziemlich großen und leidenschaftlichen Mund hatte. Einen roten Schleier müßte sie tragen, fiel ihm ein. Und da er heute seinen müden und träumerischen Tag hatte, erwachten in seinem Bewußtsein Bilder aus der Urzeit des Lebens:
    Yoghonoluk, das Haus des Großvaters. Auf dem weichen Grasboden des Parks ist das weiße Damasttuch für das Frühstück schon ausgebreitet. Alles erwartet ehrfürchtig Awetis Bagradian, den Alten, zur ersten feierlichen Mahlzeit des Tages. Auf einem Dreifuß dampft der silberne Teekessel. In Körben häufen sich Berge von Aprikosen, Weintrauben und Melonen auf flachen Schüsseln. Hölzerne Teller mit frischen Eiern, Honig und Aprikosenleder. Unter einer blendenden Serviette wartet das dünne Brot, das der Hausherr nach dem Gebete brechen wird. Gabriel ist acht Jahre alt und hat einen ähnlichen Entari-Kittel am Leib, wie Stephan ihn jetzt trägt. Wäre das Frühstück nur schon vorbei! Dann wird er sich auf den Hängen des Musa Dagh umhertreiben, um große Geheimnisse zu entdecken. Indessen schaut er gebannt auf das faltige Damasttuch. Vielleicht verbirgt sich eine große Schlange darunter. Ein goldenes Rauschen verkündet das Nahen des Großvaters. Doch sonderbar, der alte Awetis ist nichts anderes als dieses goldene Rauschen, er tritt aus ihm nicht hervor, sein goldner Klemmer an der Schnur, sein weißer Spitzbart, sein schwarzgelber Morgenrock, seine roten Saffianschuhe werden nicht sichtbar, sein Bild bleibt verborgen, obgleich er mächtig da ist. Dafür aber sieht Gabriel, wie alle Frauen langsam den Schleier über den Kopf ziehen und dem Herrn ehrfürchtig den Rücken kehren, wie es sich geziemt. Ist das eine wirkliche Erinnerung, oder nur eine aus Erinnerungsstücken falsch zusammengesetzte Einbildung? Gabriel wußte es nicht. Iskuhi aber war jedenfalls, unbekannt warum, dem Teppich seiner Urzeit eingewoben. Sie saß ihm gegenüber auf der Erde. In ihr Gesicht versunken, erinnerte er sich erst nach langer Zeit, daß man auch etwas sprechen müsse:
    »Was haben Sie zu Stephan, diesem Monstrum, gesagt, Iskuhi?«
    Sie spreizte die Finger der rechten Hand auseinander. Eine Geste des Unbehagens und der Mißbilligung:
    »Ich war entsetzt, Gabriel Bagradian, und ich war ganz verzweifelt, daß er es meinetwegen getan hat.«
    Er zögerte mit seinen Worten:
    »Auch ich war natürlich entsetzt. Die Folgen dieses Dummenjungenstreiches sind nicht auszudenken. Nun, Gott sei Dank, ist es gut abgelaufen. Eine Warnung für mich! Man muß auf den Burschen besser achtgeben. Aber wie? Er ist in einem schrecklichen Alter.«
    Iskuhi bekam ihr altkluges Lehrerinnengesicht:
    »Ja, man muß sich mehr um Stephan kümmern. Der Himmel weiß, was in ihm vorgeht.«
    »Nicht nur der Himmel weiß es, Iskuhi. Auch ich kann mir ganz gut denken, was in ihm vorgeht … Wenn er nicht mein Sohn wäre, würde mir der Streich ganz gut gefallen …«
    Er ließ dieses Geständnis ausklingen und fragte erst nach einer kleinen Pause:
    »Und Ihre Bibel, Iskuhi? Ist sie wirklich die Dummheit wert, die Stephan begangen hat?«
    Iskuhi erhob sich schnell: »Ich hab sie sehr gern. Schon deshalb, weil sie mir Aram geschenkt hat. Wenn Sie wollen, so zeige ich sie Ihnen. Bitte, warten Sie.«
    Ohne eine Aufforderung abzuwarten, lief sie eilig ins Zelt und brachte das Buch. Jetzt setzte sie sich dicht neben Gabriel. Spitz stachen ihre kleinen Knie unter dem weichen Kleidstoff hervor. Sie wollte die Bibel aufschlagen, stutzte aber, als fürchte sie Gabriels strenges Urteil:
    »Künstlerischen Wert hat sie gar keinen, Gabriel Bagradian. Ich aber finde die Bilder hübsch …«
    Gabriel beachtete die Bibel gar nicht, sondern ließ seinen Blick auf Iskuhis Mund verweilen:
    »Sie lieben Ihren Bruder wohl mehr als alles andre auf der Welt, wie?«
    Dies klang fast wie ein leichter Tadel. Iskuhi schlug ihr Lieblingsbuch angelegentlich auf, als spreche sie nicht gern über ihre Gefühle:
    »Wir sind aneinander sehr gewöhnt, Aram und ich. Ich kann mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen.«
    Sie rückte noch ein bißchen näher und hielt ihm das erste Bild hin, damit er es bewundern könne. Gabriel, der etwas kurzsichtig war, neigte sich über den volkstümlichen Quartband, der aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts stammte. Die hellkolorierten

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