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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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weiten Abständen der Steinhalde zugewandten Mauern hatte er aus hohen Eichenstämmen rechteckige Galgen errichten lassen. An dem Querpfosten dieser Galgen hing, an starken Hanfseilen waagrecht befestigt, ein dicker Widderbalken, der an dem einen Ende eine Art mächtiger Tischplatte oder eisenbeschlagenen Schildes trug. Man konnte die Seile der Aufhängevorrichtung verkürzen oder verlängern und dadurch den Stoßpunkt des Widders auf die Mauer verschieben. Wenn daher die überaus schwere Schildplatte von einem weitgespannten Pendelpunkt auf die Mauerblöcke sauste, bekam sie eine Stoßgewalt, die sich mit menschlichen Kräften nie hätte erreichen lassen.
    In dem Augenblick, da das Haubitzfeuer begann und die Beobachter meldeten, daß die türkischen Schützenketten die Bergstufe oberhalb der römischen Tempelruinen zu erklettern begannen, verlor der von Gabriel Bagradian eingesetzte Abschnittskommandant völlig den Kopf. Er starrte aus einer Lücke der Felsbastion gebannt auf die Vorhalde hinab, ohne sich zu einem Befehl aufraffen zu können. Hrand Oskanian, der gewaltige Knirps, wurde weiß wie Papier. Seine Hände zitterten so stark, daß er den Verschluß seines Karagewehres nicht zu spannen vermochte, um die erste Patrone einspringen zu lassen. Sein Magen hob sich, und Oskanian verlor das Gleichgewichtsgefühl. Vor einer halben Stunde noch ein drohender Mars, hatte der schwarze Lehrer jetzt nicht mehr Kraft genug, sich aus dem Staube zu machen. Die Stimme versagte ihm. Er folgte Sarkis Kilikian bei jedem Schritte wie ein Hündchen. Der Aufseher suchte bei dem Beaufsichtigten zähneklappernd Schutz. In den stumpfen Augen des Russen war achatne Ruhe wie immer. Sofort versammelten sich die Deserteure und auch die übrigen Zehnerschaften um ihn als das natürliche Oberhaupt. Keiner achtete mehr des Mannes aus Kheder Beg. Auch Kilikian sprach beinahe kein Wort. Er schritt inmitten des Haufens die Verteidigungswerke ab und bezeichnete mit der Hand jene Leute, die er zur Besatzung des Felsturms, der Abwehrmauern und Nebenschanzen bestimmte. Hinter den Widdergalgen waren auf hohen Steinhaufen leiterartige Gerüste errichtet. Je zwei Männer erstiegen sie jetzt, um auf Kilikians Befehlszeichen den Widder auf die Mauer sausen zu lassen. Der Russe befolgte die gleiche Taktik wie Bagradian am vierten August. Er wartete auf die richtige Sekunde. Nur schien seine gleichgültige, tote Geduld unendlich größer zu sein als die Gabriels. Als die Vorhuten der Türken bereits über dem Rand der Steinhalde auftauchten, zündete er sich mit seinem vorsintflutlichen Feuerzeug eine Zigarette an. Oskanian neben ihm zuckte und keuchte: »Jetzt! Jetzt, Kilikian, los!« Während er den Wergstreifen vergeblich in Brand zu setzen suchte, hielt Kilikian den Lehrer mit der freien Hand fest, damit er nicht aufspringe und ein verfrühtes Zeichen gebe. Durch den gefahrlosen Aufstieg und den tiefen Frieden des Berges in Sicherheit gewiegt, ließen sich die Türken gehen, rückten zusammen, redeten und bildeten dichte Klumpen. Erst als sie etwa die Mitte der Steinhalde erreicht hatten, stieß Kilikian einen langen Pfiff aus. Die Sturmwidder mit den mächtigen Schildplatten donnerten gegen die lockeren Mauern. Die leichteren Steine der oberen Schichten spritzten aufstaubend und fauchend wie Geschosse davon, während sich die großen Kalkblöcke des Unterbaus vornüberneigten und mit großen wilden Sprüngen unter die Türken krachten. Schon die erste Wirkung war entsetzlich. Nun aber griff der Armenierberg höchstselbst in den Kampf ein, um die Vernichtung des Feindes so grausam zu vollenden, daß diese Naturkatastrophe an der syrischen Küste auch in künftigen Menschenaltern nicht vergessen werden wird. Die Abwehrmauern waren zwischen den Zinnenkranz des Felsturms eingebaut. Die Gewalt der Widder erschütterte auch die natürliche Kalkkrone in ihren Grundfesten und riß große Splitter der Zacken mit zu Tal. Diesem unbeschreiblichen Steinschlag konnte die Vorhalde, die aus einem dicken und losen Steingeschiebe bestand, nicht widerstehen. Mit dem betäubenden Zischen und Prasseln einer noch niemals erlebten Sturmbrandung geriet sie ins Rutschen und riß wie eine ungeheure Flut aus Kalk und Kreide alles, was von den Türken noch lebte, mit sich hinab. Es war mehr als eine grausige Felslawine. Der Damlajik selbst schien sich vom Anker gerissen zu haben und in Fahrt zu kommen. Der Hagel ging über die Ruinen der Oberstadt von Seleucia nieder, warf

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