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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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fast durchwegs frischeingerückte Jungsoldaten, die nach einigen Wochen flüchtiger Ausbildung von ihren anatolischen Holzpflügen weg das erstemal ins Feuer kamen. Als diese Rekruten aber merkten, daß ihr Sturmlauf widerstandlos vonstatten ging, blähte sich ihr Mut auf und der wildeste Rausch, den die Masse kennt, kam über sie. Sie rasten die struppige, hindernisübersäte Lehne empor und besetzten mit knatterndem Jubel den großen Verteidigungsgraben. Der Oberst erkannte, daß die Sache gut im Zuge war und daß man den Siegesdrang der jungen Mannschaft ja nicht dürfe erkalten lassen. Er ließ daher die Stellung von den nachrückenden Saptiehs besetzen und hetzte die trunkenen Sturmlinien in dichten Reihen vorwärts. Das Haubitzfeuer vorverlegen zu lassen, wagte er freilich nicht, um sich und die Seinigen nicht zu gefährden.
    Nicht nur Gabriel Bagradian, auch jeder Armenier-Sohn in dem zweiten Graben wußte, was auf dem Spiele stand. Leben, Geist und Körper jeglichen Mannes war schwarze Nacht, in der nur ein unerträglich scharfer Brennpunkt glühte: der Visierblick aufs Ziel. Hier gab es keine Führer und keine Führung mehr, sondern lediglich das versteinernde Bewußtsein: Hinter mir das offene Lager, die Frauen, die Kinder, mein Volk! – Und so war es. Sie warteten in gewohnter Weise, bis keine Kugel mehr fehlen konnte. Auch Gabriel und Aram Tomasian schossen das erstemal mit unbewegtem Blick auf ihre Opfer, wie im Traum versunken. Das Nächste geschah über ihren und Nurhans Willen hinweg, das heißt ihr Wille war in dem der Gesamtheit völlig gelöst. Nachdem sie die fünf Patronen der Magazine verschossen hatten, luden sie nicht mehr von neuem. Wie auf einen einzigen scharfen Befehl schwangen sich die Armeniersöhne aus dem Graben. Es war alles so ganz anders als damals am vierten August. Kein einziger Blutschrei drang zwischen den fest aufeinandergepreßten Lippen hervor. Stumm und schwer warfen sich vierhundert Männer jeden Alters bis zu fünfzig Jahren auf die entsetzte Türkenjugend, die sofort aus ihrem Rausch erwachte. Ein finster wogender Nahkampf, Mann gegen Mann. Was halfen da die langen Bajonette auf den Mausergewehren. Bald bedeckten sie den Grund der Bodenwelle. Die knochigen Armenierfäuste suchten unabwendbar die Gurgeln der Todfeinde und ihre starken Zähne verbissen sich raubtierhaft und besinnungslos in die Türkenkehlen, um das Blut der Rache zu trinken. Schritt für Schritt wich die Linie der Kompagnie zurück. Die Saptiehs aber, die der alte Bimbaschi – der nicht mehr seine rosigen, sondern die violetten Wangen eines Schlaggerührten hatte – in den Kampf werfen wollte, ließen ihn im Stich. Ihr Offizier erklärte, die Gendarmerie sei eine Ordnungs- und keine Kampftruppe und daher zu Sturmangriffen auf einen bewaffneten Feind nicht verpflichtet. Auch unterstehe sie der bürgerlichen und nicht der militärischen Macht. Der seiner Natur nach so milde Bimbaschi drohte in besinnungsloser Wut, er werde den Offizier mit all seinen Saptiehs samt und sonders erschießen lassen. Wer trage denn die Schuld an dem ganzen Armenierdreck? Die Beamten und das feige, stinkende Saptiehpack, das gegen hilflose Frauen und Kinder mutig sei und sonst nur rauben, morden, stehlen und vergewaltigen könne. All seine Wut half dem Alten nichts. Die beleidigten Saptiehs verließen den Graben und zogen sich auf die Gegenhöhe zurück. Und doch, niemand kann wissen, wie das würgende Ringen geendet hätte, wäre in dieser Stunde nicht Hilfe gekommen.
    Als die Kunde von dem Steinlawinen-Wunder und von der völligen Vernichtung der türkischen Südgruppe die Stadtmulde und die Zehnerschaften der freien Abschnitte erreicht hatte, wurde das ganze Volk von kampfdurstiger Raserei erfaßt. Ter Haigasun und der Führerrat konnten die Ordnung nicht mehr aufrechterhalten. In lästerlichem Übermut fühlten sich die Seelen der göttlichen Unterstützung sicher. Die Ordonnanzen berichteten inzwischen von dem Rückzug im Norden. Die Reserve griff zu ihren Krampen, Hacken und Äxten. Männer und Weiber schrien auf Ter Haigasun ein: Zum Nordsattel! Sie wollten es heute den Türkenhunden zeigen! Dem Priester blieb nichts andres übrig, als sich an die Spitze des hellen Haufens zu stellen. Auch die freien Zehnerschaften strömten gegen Norden. Die regellose Übermacht, die von allen Seiten mit Wahnsinnsheulen einbrach, entschied die Schlacht binnen wenigen Minuten. Die Türken wurden bis über den eroberten Graben hinaus

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