Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
Vom Netzwerk:
in ihre Ausgangsstellung zurückgeschleudert. Bagradian rief Ter Haigasun zu, er möge die Reserve sogleich ins Lager zurückführen. Wenn die Haubitzen jetzt ihr Feuer eröffneten, würde in dem dichten Menschenknäuel unabsehbares Unglück geschehen. Mit großer Mühe gelang es dem Priester, die entfesselte Horde wieder zurückzutreiben. Schweiß- und blutbedeckt begannen die Verteidiger indessen, die zerstörten Stellen des Hauptgrabens in fieberhafter Eile auszubessern. Gabriels gemarterte Nerven erwarteten in jedem Augenblick die erste Granate. Bis zur Dämmerung war es noch länger als eine Stunde.
    Die Granate, deren Heulen Bagradian ununterbrochen hörte, kam und kam nicht. Hingegen ereignete sich etwas ganz Unerwartetes. Ein langes Trompetensignal sprang auf. Hinter dem Waldrand der Gegenhöhe entstand lebhafte Bewegung, und sehr bald meldeten die Späher, daß sich die türkische Streitmacht im Eilschritt zurückziehe, und zwar auf dem kürzesten Wege ins Tal. Man konnte noch bei vollem Tageslicht beobachten, wie sich die Truppen auf dem Kirchplatz von Bitias lagerten und wie der Oberst mit seinem Stab in scharfem Trab über Yoghonoluk und die südlichen Dörfer gegen Suedja ritt. Es war ein Tag, siegreicher und vor allem gnadenreicher als der vierte August. Und doch herrschte am Abend kein Jubel, ja nicht einmal eine glühende Freude, weder in den Stellungen noch auch in der Stadtmulde.
     
    Man hatte die Toten heimgebracht. Nun lagen sie, unter ihren Decken verborgen, in einer Reihe auf dem ebenen Weideplatz, den Ter Haigasun wegen seiner besonders dicken Erdschicht zum Kirchhof bestimmt hatte. Seit dem Tage des Aufbruchs waren bisher nur drei alte Leute gestorben, deren frische Gräber rohe Kalkblöcke mit schwarz darauf gemalten Kreuzen kenntlich machten. Jetzt wurden auf einmal sechzehn neue Grabstellen notwendig, denn zu den Opfern des Haubitzfeuers kamen acht Männer, die im Nahkampf gefallen, und fünf andere, die im Laufe der Stunden ihren Wunden erlegen waren. Zur Seite jedes Toten hockte seine Verwandtschaft. Doch kein lautes Wehgeschrei, sondern nur wimmerndes Klagen ertönte.
    Rings um den Lazarettschuppen lagen die Verwundeten mit ihren eingeschrumpften Gesichtern und versunkenen Frage-Augen. Der Innenraum konnte nur einen kleinen Teil von ihnen fassen. Der alte Arzt hatte eine unabsehbare Arbeit zu leisten, der er sich weder mit seinen Kenntnissen noch mit seinen Kräften gewachsen fühlte. Ihn unterstützten außer Mairik Antaram noch Iskuhi, Gonzague und Juliette. Besonders Juliette arbeitete an diesem Tage mit einer geradezu wilden Hingabe, als wollte sie in dem Dienst an den Verwundeten ihren Mangel an Liebe für dieses Volk gutmachen. Sie hatte die wohlbestellte Hausapotheke herausgeschleppt, die vor der Abreise in den Orient von dem Pariser Hausarzt der Bagradians eigens zusammengestellt worden war. Ihre Lippen waren farblos. Manchmal schwankte sie, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen. Dann suchte ihr Blick Gonzague. Sie sah ihn an, nicht wie einen Geliebten, sondern wie einen erbarmungslosen Mahner, der sie zwang, ihre Kräfte weit über ihr Maß hinaus anzuspannen. Auch Apotheker Krikor war pflichtgemäß mit seinen Arzneien erschienen. Er besaß in der Hauptsache nur zwei Wundmittel. Einige Pakete mit blutstillender Gaze und drei große Flaschen mit Jodtinktur. Letztere bildete einen besonders wertvollen Schatz, da das Jod wenigstens die Eiterung jener Wunden verhindern konnte, deren Heilung oder Nichtheilung Bedros Altouni knurrend der Natur zu überlassen gezwungen war. Der Apotheker gab dieses Allheilmittel nur mit zögernder Hand aus und goß, sobald die Tinktur allzusehr abnahm, Wasser in die Flasche nach.
    Stephan, der mit Haik und seiner Bande die beiden Schlachtfelder, den Friedhof und Lazarettschuppen umstreifte, sah das jammervolle Treiben mit an. Es war der erste Anblick von Toten, von Verstümmelten und schreienden oder stöhnenden Verwundeten in seinem Leben. Die Schreckensbilder machten ihn um Jahre älter, doch nicht ruhiger. Die frühreife Leidenschaftlichkeit in seinem Gesicht bekam einen finsteren, feindseligen Ausdruck. Wenn er jetzt vor sich hinstarrte, glich er manchmal seinem Vorbild Haik, nur mit einem Stich ins Maßlose und Überspannte. Nach Einbruch der Nacht meldete er sich, wie es ihm geboten war, beim Vater in der Nordstellung. Die Führer saßen im Kreise um Gabriel Bagradian. Er hielt die Zünder einer Granate und eines Schrapnells in der Hand und

Weitere Kostenlose Bücher