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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Tatsache, daß die türkische Obrigkeit dafür den Sonntag, und zwar die Stunde vor dem Hochamt, gewählt hatte, konnte als vertrackte Absicht und feindliches Zeichen aufgefaßt werden. Wohl war die Siedlung am Musa Dagh von den blutigen Ereignissen der Jahre 1896 und 1909 nahezu verschont geblieben. Doch Männer wie Kebussjan und der kleine Pastor von Bitias waren hellhörig genug, um bei jedem verdächtigen Laut die Ohren zu spitzen. Sie hatten den Tag nicht ganz ohne Sorgen verbracht. Erst der Abend und die strahlende Gegenwart Juliettens wußte die Trübung ihrer Ruhe zu zerstreuen. Als aber Bagradian, seines Versprechens eingedenk, die Angaben des Müdirs wiederholte, es handle sich nur um eine allgemeine dem Kriegszustand entspringende Verfügung, – da hatten alle, Nokhudian, Kebussjan, die Lehrer, des Rätsels Lösung längst gekannt und vorhergesagt. Ein heller Optimismus breitete sich nunmehr aus. Sein überzeugtester Vertreter war Lehrer Schatakhian. Er reckte sich hoch. Das Mittelalter sei vorüber, meinte er, sein glühendes Wort an Madame Bagradian richtend. Die Sonne der Zivilisation werde nun auch über der Türkei aufgehn. Der Krieg sei nur ihre blutige Morgenröte. Jedenfalls aber hätten Unterdrückung, Greuel, Massaker für alle Zeiten ein Ende gefunden. Die fortgeschrittene Welt würde dergleichen nicht mehr dulden. Und die türkische Regierung stehe unter der Aufsicht ihrer Verbündeten. Schatakhian sah Juliette erwartungsvoll an. Hatte er nicht in tadellosem Französisch dem Fortschritt gehuldigt? Die Anwesenden schienen, soweit sie ihn verstanden hatten, seine Ansichten zu billigen. Nur Lehrer Oskanian, der Schweiger, grunzte verächtlich. Jedoch dies tat er immer, wenn sich Freund Schatakhian von seiner Beredsamkeit hinreißen ließ. Da ertönte eine neue Stimme:
    »Laßt die Türken! Reden wir von wichtigeren Dingen!«
    Diese Worte hatte Apotheker Krikor gesprochen, die denkwürdigste Erscheinung in dieser Gesellschaft.
     
    Daß er eine unverwechselbare Persönlichkeit sei, bewies Apotheker Krikor schon durch seinen Anzug. Während alle Männer, auch der Muchtar, europäisch gekleidet waren (in Yoghonoluk lebte ein aus London rückgewanderter Schneider), trug Krikor eine Art russischer Bluse, jedoch von feinster hellgelber Rohseide. Das trotz seiner sechzig Jahre gänzlich faltenlose Gesicht mit dem weißen Bocksbärtchen und den etwas schiefliegenden Augen hatte die Farbe tief vergilbten Papiers und hätte weit eher einem weisen Mandarin angehören können als einem Armenier. Er sprach mit einer hohen, dabei sonderbar hohlen Stimme, die durch allzugroßes Wissen erschöpft schien. Und wirklich, der Apotheker von Yoghonoluk besaß nicht nur eine Bibliothek, dergleichen es in Syrien gewiß keine zweite gab, – Krikor war selbst eine Bibliothek in Person, ein Mann der Allwissenheit in einem der unbekanntesten Täler der Erde. Ob es sich um die Flora des Musa Dagh handelte, um die geologische Beschaffenheit der Wüsten, um eine ausgefallene Vogelart im Kaukasus, um Kupfergewinnung, um Meteorologie, um Kirchenväter, um den Koran, um Fixsterne, um die Ausfuhrziffern von Kamelmist, um die Geheimnisse des persischen Rosenöls und um Kochrezepte, – die hohle Stimme Krikors vermochte immerdar Auskunft zu geben, und zwar in leise-nachlässiger Form, als sei es jeweils eine respektlose Zumutung, die Lösung so geringfügiger Aufgaben von ihm zu fordern. Vielwisserei ist weitverbreitet. In ihr allein hätte sich die schöpferische Eigenart des Apothekers nicht bewähren können. Nein, es stand um Krikor ähnlich wie um seine Bibliothek. Diese setzte sich zwar aus einigen tausend Bänden zusammen, jedoch der weitaus größte Teil war in Sprachen abgefaßt, die er nicht zu lesen verstand. So zum Beispiel gleich das deutsche Konversationslexikon von Brockhaus eines verschollenen Jahrganges. Er mußte sich mit einem spärlichen armenischen Kenntnisbrunnen abfinden. Die Vorsehung hatte seiner Leidenschaft schwere Hindernisse in den Weg gelegt. Die armenischen und französischen Werke, die ihm zugänglich waren, bildeten die schwächste Partei seines Bücherschatzes. Krikor aber war nicht nur ein Gelehrter, er war ebensosehr ein Bibliophile. Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muß es erst gar nicht lesen. (Verhält es sich nicht mit jeder großen Liebe ähnlich?) Der Apotheker war kein reicher Mann. Er konnte es sich nicht leisten, den Buchhandlungen

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