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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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begegneten den Erwachsenen mit Frechheit und Unabhängigkeitsdrang. Die Muchtars bestätigten die Klage des Lehrers. »Wo sind die Zeiten«, jammerte der von Bitias, »da sich die Jugend mit alten Männern nicht durch Worte, sondern nur durch unterwürfige Zeichen verständigen durfte?«
    Ter Haigasun aber, der jetzt dem Jugendproblem nicht die nötige Wichtigkeit beizumessen schien, stellte an Gabriel Bagradian unvermittelt die Frage:
    »Wie ist der wahre Stand unserer Verteidigung, Gabriel Bagradian? Wie lange werden wir uns im äußersten Falle gegen die Türken halten können?«
    »Diese Frage kann ich Ihnen nicht beantworten, Ter Haigasun«, erklärte Gabriel, »die Verteidigung hängt immer vom Angriff ab.«
    Ter Haigasun schlug seinen scheuen und doch entschlossenen Priesterblick voll zu dem Gefragten auf:
    »Sagen Sie uns Ihre Meinung aufrichtig, so wie sie wirklich ist, Gabriel Bagradian!«
    »Ich habe keinen Grund, den Führerrat, was meine Meinung betrifft, schonend zu behandeln, Ter Haigasun. Ich bin fest davon überzeugt, daß es mit uns verzweifelt steht …«
    Nach kurzem Nachdenken begründete er diese Überzeugung in einigen Sätzen. Man habe bisher zwei schwere Angriffe blutig abgeschlagen. Gerade aber in der vernichtenden Kraft dieser Erfolge liege das Verhängnis. Ohne Zweifel sei die türkische Regierung bis zur Raserei erbittert. Wenn sich die Kunde dieses Mißerfolges im Reich verbreite, dann habe die militärische Autorität die schwerste Einbuße erlitten. Das ottomanische Militär dürfe diese furchtbare Belehrung nicht auf dieselbe leichtfertige Weise beantworten wie bisher. Wer weiß, ob nicht der Armeekommandant Dschemal Pascha selbst den Krieg gegen den Damlajik bereits in die Hand genommen habe? Er, Bagradian, sei fast geneigt, dies zu befürchten. Jedenfalls werde der dritte Angriff sich mit den vorhergehenden nicht im entferntesten vergleichen lassen. Wahrscheinlich hätten die Türken schon außer mächtigen Infanterietruppen auch Gebirgsartillerie und Maschinengewehrkompagnien zusammengezogen, um den Damlajik unter Trommelfeuer zu nehmen. Dem gegenüber könne die Verteidigung einige kleine Vorteile ins Treffen führen. Die Befestigungen seien nach den Erfahrungen vom vierzehnten August in den letzten Tagen wiederum verstärkt und verbessert worden. Der Besitz der Haubitzen biete keineswegs bloß einen moralischen Vorteil. Mehr als alles andere aber bedeute die Kampfgewöhnung der Zehnerschaften auf dem Damlajik ein wirkliches Übergewicht über den Feind: »Aus diesem Grunde ist es vielleicht nicht ganz und gar unmöglich, daß wir mit Gottes Hilfe noch einen Angriff abschlagen …«
    Gabriel Bagradian stellte nunmehr einen überaus wichtigen Antrag. So unsinnig auch jeder Traum der Rettung scheine, der Führerrat dürfe sich nicht ergeben in das unabwendbare Schicksal fügen und träge zuwarten. Nein, nichts, aber auch gar nichts dürfe unversucht bleiben. Das Meer freilich sehe so fürchterlich leer aus, als sei die Schiffahrt bis heute noch nicht erfunden. Und doch, Gott weiß es, vielleicht liege dennoch, gegen alle Wahrscheinlichkeit und Erhoffbarkeit, ein Torpedoboot der Alliierten vor der Reede von Alexandrette:
    »Es ist unsere Pflicht, diese Möglichkeit anzunehmen. Es ist unsere Pflicht, sie nicht ungenützt vorübergehen zu lassen. Und wie steht es mit dem amerikanischen Generalkonsul in Aleppo, Mr.Jackson? Weiß er von den Christenkämpfen und der Not auf dem Musa Dagh? Es ist unsere Pflicht, ihn aufzuklären und von der amerikanischen Regierung Schutz zu fordern.«
    Gabriel setzte seinen neuen Plan auseinander. Zwei Gruppen von Boten sollten entsandt werden, die einen nach Alexandrette, die andern nach Aleppo; nach Alexandrette die besten Schwimmer, nach Aleppo die besten Läufer. Die Aufgabe der Schwimmer sei insofern leichter, als die Bucht von Alexandrette nur fünfunddreißig Meilen nordwärts liege und der Weg über ausgestorbene Bergeshöhen genommen werden könne. Der eigentliche Zweck des Unternehmens allerdings – das Kriegsschiff in der Bucht schwimmend zu erreichen – erfordere die höchste Entschlossenheit und Körperkraft. Diese Willensleistung bleibe den Aleppoläufern wohl erspart, dafür aber hätten sie eine Wegstrecke von fünfundachtzig Meilen vor sich, die nur bei Nacht, ohne Benützung der großen Straße, jenseits aller menschlichen Wohnstätten und dennoch unter ständiger Todesgefahr, zurückgelegt werden könne. Gelänge es aber diesen

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