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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Stephan. Wagst du es wirklich, dich Mama so zu zeigen?«
    Der Junge antwortete nicht und sah gequält zu Boden. Es war noch gut, daß der Vater französisch zu ihm gesprochen hatte. Der Befehl aber erfolgte leider in armenischer Sprache, so daß ihn das Rudel hören konnte:
    »Geh jetzt sofort ins Zelt, wasch dich, kleide dich um! Am Abend meldest du dich in einem menschlichen Zustand bei mir!«
    Nachdem Gabriel Bagradian dann verärgert noch ein Stück in südlicher Richtung gegangen war, blieb er plötzlich stehn. Ob der Bursche seinem Befehl wohl gehorcht hatte? Er war des Gegenteils beinahe gewiß. Und wirklich, als er eine Weile später ins Scheichzelt trat, fand sich kein Stephan drin. Gabriel überlegte, welche Strafe er über den Jungen verhängen müßte; es handelte sich hier ja nicht nur um den bloßen Ungehorsam gegen den Vater, sondern um Insubordination gegen den höchsten Führer. Mit den Strafen auf dem Damlajik wars jedoch ein schwieriges Ding. Bagradian ging zu seinem Koffer, der in diesem Zelt stand, und zog irgend ein Buch hervor. Doktor Altounis Rat für Juliette, eine Geschichte zu lesen, die von dieser schauderhaften Wirklichkeit weit wegführt, hatte ihn selbst begehrlich danach gemacht. Vielleicht durfte er ein paar müßige Stunden lang die unerbittliche Welt und das unerbittliche Ich vergessen. Für heute war nichts mehr zu befürchten. Der Tag schritt vor. Die Beobachter sämtlicher Stände meldeten allstündlich: Nichts Neues im Tal. Eine Kundschafterpatrouille, die sich fast bis nach Yoghonoluk vorgewagt hatte, war heimgekehrt und berichtete, daß sie nirgends auch nur einen Saptieh zu Gesicht bekommen habe. Gabriel warf einen Blick auf den Titel des gelben Romans. Es war ein Buch von Charles Louis Philippe, das er gern hatte, obgleich er sich nur ganz undeutlich daran erinnerte. Gewiß aber gab es darin kleine Cafés mit Tischen und Stühlen auf der Straße. Breite Sonne lag auf staubigen Vorstadtboulevards. Ein winziger Hof mit einer Akazie und einem moosgrünen Kanalgitter in der Mitte. Und dieser elende Hof verrät einen frühlingshafteren Frühling als die gesamte Rhododendron-, Myrten-, Anemonen- und Narzissenpracht des Musa Dagh im März. Alte finstere Holztreppen, ausgetreten wie Muscheln. Hinab klappert ein unsichtbarer Frauenschritt …
    Als Gabriel das Buch öffnete, fiel ein viereckiges Briefchen heraus. Der kleine Stephan hatte es vor einigen Jahren geschrieben. Damals – es war ebenfalls im August – nahm Gabriel gerade an der großen Konferenz zwischen Jungtürken und Daschnakzagan in Paris teil, während sich Juliette mit dem Kinde zur Erholung in Montreux aufhielt. Auf jenem berühmten verbrüderungsfreudigen Kongreß wurde das einige Vorgehen der freiheitlichen Jugend beider Völker zur Erneuerung des Vaterlandes beschlossen. Die Folge dieses Treueschwurs war es bekanntlich, daß sich Bagradian nebst einigen anderen Idealisten in die Reserveoffiziers-Akademie einschreiben ließ, als die Kriegswolken sich über der Türkei zusammenzogen. Stephans Briefchen, das seit jenen Augusttagen unberührt in dem Pariser Roman von Charles Louis Philippe lag, wußte noch nichts von der ungeheuerlichen Zukunft. Es war mit der starren Kleinkinderschrift französischer A-B-C-Schützen in friedlicher Mühsamkeit geschrieben:
    Mein lieber Papa! Wie geht es Dir? Wirst Du noch lange in Paris bleiben? Wann kommst Du zu uns? Mama und mir ist sehr bange nach Dir. Hier ist es sehr schön. Es grüßt und küßt Dich Dein dankbarer Sohn
    Stephan.
    Gabriel saß auf dem Bett, in dem Gonzague Maris zu schlafen pflegte, und starrte auf die zittrigen Züge der Kinderschrift. Es war unfaßbar, daß jenes hübschgekleidete Kind, das in einem hellen Hotelzimmer auf Juliettens noch immer duftendem Leinenpapier die wohlerzogenen Zeilen gekritzelt hatte, mit dem herangewachsenen Wald- und Wüstenmenschen von vorhin eins sein sollte. Gabriel Bagradian, der jetzt an Stephans unruhige Tieraugen und an das kehlige Kauderwelsch des Bubenrudels dachte, ahnte gar nicht, daß mit ihm selbst eine ähnliche Verwandlung vor sich gegangen war. Sein Bewußtsein erfüllten jetzt die hundert aufsprießenden Kleinigkeiten jenes fernen Augusttages, die der Kinderbrief erweckt hatte. Und kein Blutgreuel, kein Martertod schien ihm herzzerreißender als dieses kleine Welkblatt eines Alltags, dem nichts mehr etwas anhaben konnte.
    Nach dem Versuch, die ersten fünf Zeilen des Romans zu lesen, schloß Gabriel den Band. Er

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