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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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völlig traute, hatte er sich zumeist in der Nähe des Steineichenschlucht-Abschnittes aufgehalten und mehrmals, den Türken in die Flanke fallend, mit seinen Zehnerschaften eingegriffen. Die Aufgabe Sarkis Kilikians war alles eher als leicht. Der Hauptgraben dehnte sich nur über ein ziemlich kurzes Bodenstück. Die Gräben der Seitensicherung lagen nicht sehr günstig und waren überdies je einige hundert Schritt weit von den Nachbarabschnitten entfernt, ohne daß diese Lücken, wie zwischen den meisten anderen Einfallspunkten, durch Steilhänge, Felswände oder dicken Knüppelwuchs ungängig blieben. Der Russe gebot über eine verhältnismäßig kleine Besatzung von acht Zehnerschaften, die außerdem, der Bodenbeschaffenheit entsprechend, ziemlich auseinandergezogen stand. Dennoch war er ohne bedeutende Verluste über den Tag hinweggekommen, obwohl immerhin zwei Tote und sechs Verwundete zu beklagen waren. Etwas von Kilikians Wesen, seiner totenhaften Ruhe und Gleichgültigkeit war auf die Besatzung übergegangen. So oft die Türken zum Angriff ansetzten, schossen die Leute mit solcher, man kanns nicht anders nennen, gelangweilten Sicherheit, als seien sie im Tode und im Leben gleicherweise zu Hause und es bekümmere sie nicht sehr, welchen von diesen zwei Aufenthaltsorten sie künftig bewohnen würden. Während Kilikian sein Gewehr im Anschlag hielt, ließ er keine der guten Zigaretten verlöschen, von denen ihm Bagradian eine Schachtel zum Geschenk gemacht hatte. Jetzt, nach so vielen blutigen Stunden, lehnte er seine dürre Gestalt gegen die Grabenwand und starrte auf das mit Baumstrünken und Stämmen, mit Sträuchern und Latschen übersäte Vorfeld, das sich in scharfer Neigung bis zum Ausstieg der eigentlichen Steineichenschlucht senkte, die der Feind dicht besetzt hielt. Gabriel Bagradian hatte hier selbstverständlich in den ersten Tagen schon den Bergrand abholzen lassen. Kilikians jugendlicher Totenkopf saß regungslos zwischen den Schultern. In seinen Augen mit dem stumpfen Achatglanz kam die große Kunst zum Ausdruck, das Leben bis auf ein Minimum an Tätigkeit abstellen zu können. In der erbeuteten Uniform sah der Russe mit seinen abfallenden Schultern und seiner mädchenschmalen Taille, die er durch einen festangezogenen Gürtel eigens betonte, wie ein äußerst eleganter Offizier aus. Er sprach mit den Nachbarmännern kein Wort und auch diese schwiegen. Ihre Augen sahen immer wieder nach den Schatten der Bäume und Sträucher, die von Sekunde zu Sekunde länger, schmäler, goldhaltiger wurden wie geheimnisvolle Lebewesen. Alle Armenier-Söhne und -Töchter auf dem Damlajik, bis vielleicht auf Krikor und Kilikian, hegten jetzt einen einzigen Gedanken, den Gedanken Gabriel Bagradians: Nur eine Stunde noch und dann ist die Sonne untergegangen. Im Norden knatterte salvenartiges Feuer. Hier unten aber lag Wald und Berg scheinbar im tiefsten Frieden. Manche von diesen abgekämpften Männern schlossen jetzt die Augen, um eine Weile im Stehen zu schlafen. Sie hatten dabei das sonderbare Gefühl, daß dieser gestohlene Schlummer die Zeit heimlich vorwärts und der rettenden Nacht in die Arme treibe. Der Schläfer wurden immer mehr und mehr. Zuletzt schien von der Besatzung in den drei Gräben kaum ein Mann wach zu sein. Nur die leblos geschliffenen Steinaugen Sarkis Kilikians, des Führers, beobachteten unbeweglich den schwarzen Waldrand der Steineichenschlucht. Das Geschehnis der nächsten Minuten gehört zu jenen Rätseln, die sich wahrheitsgemäß durch nichts erklären und ergründen lassen. Zur Not könnte man die unbegreifliche Lethargie im Wesen Kilikians verantwortlich machen, jene Eigenschaft, die das Leben schon in dem elfjährigen Knaben (als er unter seiner verblutenden Mutter lag) als Selbstschutz gegen das Übermaß von Qualen auszubilden begann. Er rührte sich jedenfalls nicht und in seine Augen kam kein anderer Blick, als aus dem Walde unten erst einzelne Infanteristen hervorzögerten, denen allmählich ganze Schwärme folgten. Kein einziger Schuß kündigte einen Angriff an. Die Türken schienen sich von der schwarzgezackten Wand der Steineichenschlucht ängstlich nicht lösen zu wollen und verlegen zu warten, bis die Gewehre der Verteidiger losgehen würden. Da dieses nicht geschah, gaben sie sich einen Ruck, es waren schon mindestens dreihundert Mann, liefen vor und warteten, hinter jedes Hindernis sich duckend, wieder auf das armenische Feuer. Ein Teil der Männer in den Gräben schlief

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