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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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etwa zwölf Ordonnanzen der Jugendkohorte warteten auf seine Befehle. Haik war unter ihnen. Stephan nicht. Jeden Augenblick trafen Meldungen ein. Hauptsächlich solche vom Nordsattel, der bis jetzt noch keinen schweren Tag gehabt hatte. Um diese Stunde aber schienen die Türken ihre Absichten zu ändern und einen Hauptschlag im Norden vorzubereiten. Die Berichte Tschausch Nurhans lauteten immer nervöser. Nicht nur der Major, sondern ein ganzer Stab von Offizieren sei hinter den Deckungen auf den Gegenhöhen des Sattels aufgetaucht. Man habe sie deutlich an den Feldstechern erkannt. Bagradian hatte sich vorgenommen, mit dem Einsatz der Garde, das heißt der letzten Kräfte, auf das äußerste zu geizen und sich durch die Unsicherheit der einzelnen Unterführer nicht mißbrauchen zu lassen. Der Nordabschnitt war die bei weitem bestgesicherte Stellung und es lag gar kein Grund vor, Verstärkungen in dieses Grabensystem zu werfen, ehe der Kampf noch begonnen hatte. Viel wichtiger dünkte es Gabriel Bagradian, immer in der Nähe des sehr gefährdeten Abschnittes der Steineichenschlucht zu bleiben, um dort ein Unglück zu verhüten. Er lag mit geschlossenen Augen da und schien den häufigen Meldungen vom Nordsattel keine Beachtung zu schenken. Nur noch zweieinhalb Stunden, sagte er sich innerlich vor. Eine Kampfpause war eingetreten. Das Feuer schwieg. Bagradian gab sich ganz seiner Erschöpfung hin. Vielleicht aber war dieser geistige und körperliche Schwächezustand der Grund, warum er dem Major doch in die Falle ging.
     
    Das Echo des Kampfes erreichte die Riviera mit voller Schärfe. Das Pochen und Plättern der Schüsse klang durch eine sonderbare akustische Übertreibung so peitschend nahe, daß Juliette und Gonzague das Gefühl haben mußten, sie säßen mitten im Feuernetz, während sich die Schlacht in Wirklichkeit doch ziemlich entfernt abspielte. Juliette hielt Gonzagues Hand fest. Sein Wesen war nichts als horchende Spannung. Er saß regungslos in gespannter Haltung da:
    »Ich glaube, es kommt von allen Seiten näher. Es hört sich wenigstens so an …«
    Juliette sagte nichts. Dieser polternde pfeifende Lärm war so traumhaft fremdartig, daß sie ihn nicht zu verstehen und darum auch kaum zu fürchten schien. Gonzague beugte sich nun etwas vor, um die Brandung besser zu sehen, die an den Klippen in der Tiefe hochsprang. Das Meer war heute außerordentlich bewegt und mischte seine ferne Zornstimme in den Wirbel des Gewehrfeuers. Maris deutete südwärts die Küste entlang:
    »Wir hätten uns früher entscheiden sollen, Juliette. Du könntest jetzt schon im schönsten Frieden in dem Wohnhaus der Spiritusfabik warten …«
    Sie schauerte zusammen. Ihr Mund öffnete sich, doch sie mußte ihre Stimme erst lange suchen wie etwas Verlorenes:
    »Das Schiff geht am sechsundzwanzigsten … Heute ist der dreiundzwanzigste … Ich habe noch drei Tage Zeit …«
    »Nun ja«, – er beruhigte sie mit zarter Nachsicht – »du hast noch drei Tage Zeit … Ich nehme dir keinen Tag fort … Wenn es die andern dort nicht tun …«
    »Ah, Gonzague, mir ist ganz merkwürdig zumute, ganz unverständlich …«
    Sie verstummte mitten im Satz. Es erschien ihr aussichtslos, ihren Zustand zu schildern, der ihr selbst völlig unbekannt war. Wie irgend etwas Weiches, sehr Verletzliches, das mit seinem frierendsten Teil aus der schützenden Hülse gezogen ist. Ihre Glieder hatten ein kaltes Eigenleben, das mit dem Gesamtbewußtsein ihrer selbst nur mehr ganz mangelhaft zusammenhing. Als ob sie die Arme und Beine mit einem schmerzlichen Bedauern hätte ablegen und in einen Kasten sperren können. In früheren Zeiten, in ihrer vernunftvollen und lichten Welt, wäre Juliette nicht untätig geblieben. Irgend etwas fehlt mir, hätte sie sich gesagt und wahrscheinlich zum Fieberthermometer gegriffen. Jetzt grübelte sie darüber nach, wie es komme, daß ihr schrecklicher Zustand doch wieder auch recht behaglich und wunschlos sei. Dabei wiederholte sie noch zweimal: »Unverständlich …«
    Gonzague zog sie mit lächelndem Ernst dichter an sich:
    »Arme Juliette, ich verstehe dich genau … Du hast zuerst in fünfzehn Jahren und nun in vierundzwanzig Tagen dich selbst verloren. Jetzt kannst du weder die falsche noch die richtige Juliette in dir finden. Siehst du, ich gehöre nirgends hin, ich bin kein Armenier, kein Franzose, kein Grieche, kein Amerikaner, sondern wirklich und wahrhaftig nichts und daher frei. Mit mir wirst du es

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