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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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entmischten und es der Überzahl gelang, die Armenier gegen die Stadtmulde, vor sich herzutreiben. Bis zur Sekunde genau reichte die Zeit hin, daß Bagradian mit der völlig erschöpften Garde das Allerletzte vom Lager noch abwenden konnte. Die Türken wurden zurückgedrängt, doch nur bis zu den eroberten Gräben, die sie fest in der Hand behielten.
    Das größte Heil war aber die Nacht, und eine bewölkte, mondlose dazu, die jetzt rasch einbrach. Der Jüs-Baschi konnte es nicht mehr wagen, noch einen, und zwar den entscheidenden Stoß zu führen. In der Finsternis waren die Armenier, die den Damlajik wie ihren eigenen Körper kannten, trotz ihrer vielen Toten gegen eine ganze Division im Vorteil. Der Kaimakam, durch die riesigen Verluste aufs tiefste verstört, wußte nicht recht, was er von diesem unausgenützten Sieg zu halten habe. Der Major versprach ihm hoch und heilig, er werde bis zur dritten Morgenstunde der Angelegenheit ein radikales Ende bereitet haben. Daraufhin entwickelte er in Kürze seinen neuen Kriegsplan. Bis auf kleine Scheinbesatzungen wurden die türkischen Truppen unauffällig von den Verteidigungsabschnitten zurückgezogen. Die ganze Streitmacht bezog auf der breiten Sohle der Steineichenschlucht das Nachtlager, um in der ersten Morgenfrühe bereit zu sein, aus dem eroberten Graben heraus, wie ein mächtiger Balken, das letzte unbedeutende Hindernis durchzustoßen.
    Es ließ sich aber nicht verhindern, daß die bewaffneten Dorf-Moslems als die neuen Hausbesitzer, die sie ja waren, eine Nächtigung unter eigenem Dache dem Freilager vorzogen und die Truppen verließen.
     
    Gegen sechs Uhr abends kam Pastor Aram Tomasian schweißbedeckt und aufgelöst in das Zelt der Frauen, stürzte drei Gläser Wasser hinunter und keuchte:
    »Iskuhi, Howsannah! Macht euch bereit! Die Sache steht nicht gut. Ich werde euch rechtzeitig abholen. Wir müssen ein Versteck irgendwo unter den Felsen finden … Jetzt gehe ich den Vater suchen …«
    Ohne zu Atem zu kommen, war Tomasian sofort wieder verschwunden. Iskuhi, die ihr Versprechen gehalten und sich tagsüber nicht aus dem Zelt gerührt hatte, half der jammernden Howsannah beim Aufstehen, so gut es ging, reichte dem Kind die Flasche mit der gewässerten Milch und zog dann noch mit ihrem rechten Arm die wenigen Gepäckstücke der Familie unter den Betten hervor. Plötzlich aber hielt sie mitten in der unvollendeten Arbeit inne und verließ Howsannah, ohne ein Wort zu sagen …
    Eine Stunde nach Sonnenuntergang. Der große, mit zertretenem Gras bedeckte Altarplatz der Stadtmulde. Die Führer hatten sich nicht in die Regierungsbaracke zurückgezogen, sondern saßen vor dem heiligen Gerüst auf der Erde. Das Volk hockte in gepreßter Stille dicht um sie gelagert. Die Laubhüttengassen waren ausgestorben. Manchmal kam das Aufjammern eines Schwerverwundeten vom Lazarettschuppen als einziger Laut herüber. Man hatte einen Teil der Toten des letzten Angriffs bergen können. Sie lagen auf der Holztenne des Tanzbodens nebeneinander, von Decken und Plachen nur unvollkommen verhüllt. Kein Licht, kein Feuer. Der Führerrat hatte jedes laute Wort verboten. Das Schweigen der Menge war so dicht, daß jeder das Geflüster der Gewählten leicht ausnehmen konnte. Ter Haigasun schien als Einziger die Fassung bewahrt zu haben. Seine Stimme klang ruhig und bedächtig:
    »Wir haben nur eine Nacht vor uns, das heißt, acht Stunden Finsternis …«
    Er wurde mißverstanden. Selbst Aram Tomasian, dessen Herz durch den Gedanken an Howsannah, Iskuhi und das Kind zerrissen war, erwog heute allerlei nervöse Pläne. Er sprach allen Ernstes davon, daß es vielleicht am besten wäre, das Lager zu räumen und in den Felsrissen, Kalkhöhlen und Grotten der Steilseite Schutz zu suchen. Diese Anregung aber fand nur wenige Parteigänger. Es zeigte sich, daß die Menschen unsinnigerweise zu ihrem neuen Wohnort Liebe gefaßt hatten und ihn bis zur letzten Möglichkeit verteidigen wollten. Man begann hin- und herzustreiten. Mit leeren Phantastereien drohte von den wenigen Stunden der Finsternis Minute um Minute fruchtlos abzubröckeln. Aus der ringsum gelagerten Volksmenge drangen dann und wann unterdrückte Frauenschreie und krampfhaftes Aufschluchzen. Dieser Tag hatte den Tod über mehr als hundert Familien gebracht, wenn man die Verwundeten mit einrechnete, die den Türken in die Hände gefallen waren. Auch wußte niemand, wie viele Schwerverletzte noch draußen in den Stellungen lagen, die

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