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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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sehr leicht haben. Der Schnitt aber bleibt dir nicht erspart …«
    Sie sah ihn gänzlich verständnislos an. Jetzt erreichte das Gewehrfeuer dort drüben den Höhepunkt seiner Erregung. Es war unmöglich, länger ruhig sitzen zu bleiben. Gonzague half Julietten auf. Sie schwankte wie betäubt. Er schien unruhig zu werden:
    »Wir müssen bedenken, was zu tun ist, Juliette! Das dort klingt nicht besonders vertrauenerweckend. Was hast du vor?«
    Sie machte eine unvollständige Handbewegung, wie um sich die Ohren zuzuhalten:
    »Ich bin müde … und möchte mich hinlegen …«
    »Das ist ausgeschlossen, Juliette! Hör nur! Es kann jeden Augenblick ein Unglück geschehen. Ich bin dafür, daß wir diesen Platz hier verlassen und die Sache weiter unten abwarten …«
    Sie schüttelte eigensinnig den Kopf:
    »Nein, ich will lieber in mein Zelt zurückgehn!«
    Er nahm sie um die Hüfte und versuchte sie leise mit sich zu ziehen:
    »Sei nicht böse, Juliette! Aber es ist unbedingt notwendig, jetzt alles klar zu überlegen. In der nächsten halben Stunde kann das türkische Militär in der Stadtmulde sein. Und Gabriel Bagradian? Weißt du, ob er noch lebt?«
    Das Krachen und Heulen ringsum schien Gonzagues Befürchtungen zu bekräftigen. Juliette aber erwachte jäh aus der Verworrenheit zu ihrer alten Energie und Willenskraft:
    »Ich will Stephan sehn, ich will Stephan bei mir haben«, rief sie mit fast zorniger Überschwenglichkeit. Der Name ihres Kindes zerriß die Nebelschleier der grauenhaften Irrealität, die sie von allen Seiten umlagerte. Die Mutterschaft wurde plötzlich zu einem festen Haus mit undurchdringlichen Mauern, das sich gegen die ganze Welt absperren ließ. Sie packte Gonzague an beiden Armen und stieß ihn ungeduldig von sich:
    »Holen Sie sofort Stephan hierher, hören Sie, ich bitte Sie, verlieren Sie keine Zeit, finden Sie ihn! Ich warte, ich warte …«
    Einen Augenblick lang bedachte sich Maris. Dann unterdrückte er ritterlich jeden Widerspruch und neigte den Kopf:
    »Gut, Juliette, wenn du es wünschest! Ich werde alles tun, um den Jungen so schnell wie möglich aufzutreiben, und dich nicht lange warten lassen.«
    Gonzague Maris kam tatsächlich schon nach einer halben Stunde mit dem völlig verwilderten und verschwitzten Stephan zurück, der ihm nur widerwillig folgte. Juliette stürzte sich auf den Knaben, preßte ihn an sich, während ein trockener Weinkrampf sie erschütterte. Der Knabe war so müde, daß er, als sie sich alle niederließen, sofort einschlief.
     
    Gabriel Bagradian hatte ohne Zweifel bewiesen, daß er, der Schöngeist, echte militärische Führerbegabung besaß, vom tödlichen Zwang an die Oberfläche geholt. Dem Fehler, den er jetzt beging, waren angesehene Generale oft erlegen, indem sie sich durch die Vorliebe für gewisse wohlstudierte Kampfabschnitte in ihren Entschlüssen leiten ließen. Und so ließ sich denn Gabriel auch durch die Vorliebe für das Hauptwerk seines großen Verteidigungsplanes, den Nordabschnitt, dazu verleiten, den zahlreichen Botschaften Tschausch Nurhans, die zuletzt in Hilferufe ausarteten, endlich doch nachzugeben. Da die Türken ihre Angriffe weder aus der Steineichenschlucht noch auch bei den anderen Einfallspunkten des Bergrandes wiederholten, da ringsum das Gewehrfeuer schwieg, um sich mit ungeahnter Wucht im Norden zu sammeln, so erschien es mehr als wahrscheinlich, daß der Feind mit seiner ganzen Übermacht einen Durchbruchversuch in der Sattelstellung wagen werde. Aus diesem Grunde zog Bagradian die über die lange Randfront verteilten Zehnerschaften der fliegenden Garde zusammen und führte sie nach Norden, wo sie, des türkischen Sturmes gewärtig, den zweiten Graben und die Felsbarrikaden bezogen. Gabriel erwartete das Vorbrechen des Feindes in jedem Augenblick, da das Feuer von Minute zu Minute an Heftigkeit zunahm und der Abend immer näher rückte. (Da niemand andrer als er die Haubitzen richten und bedienen konnte, mußten sie außer Gefecht bleiben.)
    Sarkis Kilikian hatte sich während des Tages als Abschnittskommandant über der Steineichenschlucht hervorragend gehalten und fünf Angriffe abgeschlagen. Eine Zeitlang hatte es den Anschein, als ob die türkischen Schwarmlinien aller Verluste ungeachtet, den Durchbruch nirgendwo anders als hier oben erzwingen wollten, da es sich ja um die Schlüsselstellung handelte, die mitten ins Volkslager führte. Weil Gabriel Bagradian der Ausdauer des Russen in den ersten Kampfstunden nicht

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