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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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bisher noch nicht ins Lager hatten gebracht werden können. Die schwere Nacht drückte wie eine niedrige Zimmerdecke auf den Musa Dagh. Als das Geflüster immer leerer und wirrer rann, wurde Gabriel Bagradian von Ter Haigasuns Stimme gewichtig getroffen:
    »Es bleibt uns nur mehr diese einzige Nacht, Bagradian Effendi! Müssen wir diese Nacht, diese acht kurzen Stunden nicht ausnützen?«
    Gabriel hatte sich, die Arme unterm Kopf, zurückgelegt und starrte in das schwarze Oben. Er konnte sich gegen den Schlaf kaum wehren. Alles versank. Sinnlose Worte plätscherten an sein Ohr. Ihm fehlte in dieser Sekunde die Energie, dem Priester auch nur eine Antwort zu geben. Er murmelte etwas Unverständliches in sich hinein. Da fühlte er auf einmal eine kleine eiskalte Hand, die sein Gesicht abtastete. Es war so finster, daß er Iskuhi nicht sehen konnte. Sie hatte ihn nach langer Irrfahrt von Stellung zu Stellung endlich gefunden. Nun setzte sie sich, als sei das selbstverständlich, mitten in den Kreis der Führer an seine Seite. Nicht einmal vor ihrem Bruder schien sie angesichts dieser einzigen und letzten Nacht Scham zu empfinden. Iskuhis kalte Hand wirkte auf Gabriel weckend und belebend wie frisches Wasser. Die Erstarrung begann von ihm zu weichen, sein Denken wieder zu keimen. Er setzte sich auf und nahm ihre Hand in die seine, ohne dessen zu achten, ob in der Finsternis jemand diese Zärtlichkeit bemerke oder nicht. Iskuhis Hand schien ihn aus der stolprigen Wirrnis seiner Ermattung zu sich selbst zurückzuführen. Er atmete tief. Sein Zwerchfell straffte sich. Ein körperlicher Frohmut regte sich, wie ihn ein Durstiger empfindet, der sich satt getrunken hat. Der Führerrat verstummte plötzlich. Fremde Stimmen nahten. Alles sprang erschrocken auf die Beine. Türken? Mehrere Blendlaternen schwankten. Es war eine Abordnung der Komitatschis, die zurückkehrte. Sie wollten den Befehl für morgen entgegennehmen. Die Komitatschis meldeten, daß von ihnen nur ein Mann gefallen und zwei gefangen worden seien, und daß sie ihre Posten nach wie vor besetzt hielten. Zugleich berichteten sie, daß die türkischen Kompagnien bis auf kleine Reserven die meisten Höhenabschnitte heimlich räumten, um in der Steineichenschlucht zusammenzuströmen. Die Verbindung zwischen dem eroberten Graben und der Hauptmacht werde durch Postenketten und Patrouillen aufrechterhalten. Die Absicht sei sonnenklar.
    »Wir werden diese Nacht benützen, Ter Haigasun«, rief Gabriel so laut, daß die ganze Menge es hören konnte. Im selben Augenblick schien auch die Lähmung der anderen Führer überwunden zu sein. Alle Köpfe durchblitzte der gleiche Gedanke, ehe Bagradian noch ein Wort gesagt hatte. Nur ein gewaltiger Überfall auf das türkische Nachtlager konnte den Untergang abwenden. Doch um den Überfall zu vollbringen, reichten die erschöpften Kämpfer dieses endlosen Blut-Tages nicht hin. Das ganze Volk, Frauen und Kinder, mußten in irgend einer Weise teilnehmen und mit der körperlichen Wucht von Tausenden dem Handstreich Nachdruck verleihen. Alles redete jetzt mit lauter Stimme durcheinander. Jeder Muchtar und Lehrer suchte seinen Vorschlag anzubringen, bis Gabriel mit scharfer Stimme Ruhe gebot. Man dürfe über diese Fragen nicht laut verhandeln. Es sei nicht unmöglich, daß sich türkische Spione ins Lager geschlichen hätten. Gabriel Bagradian sandte Nurhan Elleon in seinen Abschnitt zurück, damit er von den zwanzig Zehnerschaften, die ihn besetzt hielten und die durch die Kämpfe verhältnismäßig wenig gelitten hatten, hundertundfünfzig Krieger in tiefer Stille heranführe. Der Rest konnte und mußte genügen, um die dortigen Gräben und Felsbarrikaden im Falle eines Gegenangriffs zu behaupten. Desgleichen hatten die Südbastion und die Abschnitte des Bergrandes insgesamt zwanzig Zehnerschaften zu stellen, die auch wirklich im Laufe von zwei Stunden sich lautlos auf dem Altarplatz versammelten. Mit den Komitatschis und seiner fliegenden Garde brachte Bagradian eine Macht von mehr als fünfhundert Männern zusammen. Alle Bewegungen kosteten sehr viel Zeit, da nicht das leiseste Geräusch gemacht und kein Befehlswort gesprochen werden durfte, sondern nur das Notwendigste in knappen Silben geflüstert wurde. In der dichten Finsternis war es sehr schwer, die Einteilungen zu treffen. Nur die Kenntnis jedes einzelnen Mannes ermöglichte es Bagradian, in dem stumpfen und müden Haufen die beiden Gruppen zu organisieren. Die erste,

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