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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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politischen Sinne unerwünscht. Ich würde Ihnen raten, Verehrtester, sie einzuschränken und möglichst unauffällig zu gestalten.«
    Die Antwort des Pastors fällt im Ton eher mürrisch als feierlich aus:
    »An mich ist ein Ruf ergangen. Keine Macht der Welt kann mich hindern, diesem Ruf zu folgen.«
    »Sagen Sie das nicht, Herr Doktor Lepsius«, erschrickt der Geheimrat mit beinahe bestürzter Liebenswürdigkeit, »einige Mächte der Welt arbeiten schon daran, Sie gründlich zu hindern.«
    Der Pastor tastet seine linke Rockseite eingehend ab. Dann erhebt er sich:
    »Ich bin Ihnen äußerst dankbar, Herr Geheimrat, für Ihre Aufrichtigkeit und für Ihren Rat.«
    Der hohe schlanke Herr steht mit einer Art selbstgefälliger Verlegenheit, die ihn gut kleidet, vor Lepsius:
    »Es freut mich, daß wir uns so rasch verstanden haben, Herr Pastor. Sie sehen blaß aus. Es wäre für Sie am bekömmlichsten, eine Zeitlang auszuspannen und in den Tag hinein zu leben. Wohnen Sie nicht in Potsdam?«
    Johannes Lepsius bedauert, den Herrn Geheimrat solange in Anspruch genommen zu haben. Dieser aber geleitet ihn mit dem reizendsten Lächeln zur Tür:
    »Aber nein, Herr Pastor, eine interessantere Stunde habe ich lange nicht erlebt.«
    Unten auf der mittagschwülen Wilhelmstraße prüft sich Johannes Lepsius, ob er sich dem Herrnworte gemäß sanft wie eine Taube und klug wie eine Schlange verhalten habe. Er muß aber schnell erkennen, daß er, sowohl als Taube wie auch als Schlange, versagt hat. Zum Glück jedoch ist er vorsichtig genug gewesen, sich schon vor längerer Zeit alle nötigen Pässe, Sichtvermerke, Reise-Erlaubnisse, Geldausfuhrbewilligungen zu beschaffen. Darum hat er vorhin seine linke Brustseite so eingehend nach diesen Heiligtümern betastet. Er dreht sich scharf um, ob ihn nicht jetzt schon ein Kriminalbeamter verfolge. Sein Entschluß ist gefaßt. Der D-Zug nach Basel geht um drei Uhr vierzig. Er hat noch mehr als drei Stunden Zeit, um nach Hause zu telephonieren, sein Gepäck kommen zu lassen und sich sonst auf die Reise vorzubereiten. Morgen schon können die Grenzen für ihn gesperrt sein. Doch er muß nach Stambul kommen! Dort gehört er hin, wenn er auch jetzt noch keine deutliche Vorstellung hat, warum. In Deutschland jedenfalls geht sein Hilfswerk auch ohne ihn weiter. Die Organisation ist geschaffen, das Büro eingerichtet, Gönner, Freunde, Mitarbeiter sind gewonnen. Sein Platz ist nicht in der gesicherten gleichgültigen Ferne, sondern an der Küste des Blutmeeres selbst.
    Auf dem Potsdamer Platz herrscht ein betäubender Verkehr. Der kurzsichtige Lepsius wartet lange auf eine Gelegenheit, heil auf die andre Seite zu kommen. Das Donnern, Rollen, Rattern, Kreischen der Autos, Autobusse und Straßenbahnen dröhnt als ein zusammengeschmolzener Ton an sein Ohr. Wie Glocken einer ungeheuren barbarischen Kathedrale. Ein kleines Gedicht fällt ihm ein, das er vor vielen Jahren an Bord des tanzenden Schiffleins niedergeschrieben hat, das ihn an dem Felseneiland Patmos-Patino vorübertrug, an der heiligen Insel des Apostels und Offenbarers Johannes. Jetzt tönt in ihm der Refrain auf:
     
    A und O
    A und O
    Läuten die Glocken von Patino
     
    Und dieser Versklang scheint zwei so gegensätzliche Örtlichkeiten wie Patmos und Potsdamer Platz miteinander zu verbinden.
     
    Das Leben eines scheuen Nacht-Tiers in Stambul.
    Johannes Lepsius weiß sich verfolgt und beobachtet. Er verläßt daher das Hotel Tokatlyan meist nur bei Nacht. Am ersten Tag seines Aufenthaltes hat er seinen Pflichtbesuch auf der deutschen Botschaft abgestattet. Anstatt des Ministers, des Botschaftssekretärs oder Presseattachés empfängt ihn ein untergeordneter Beamter mit der eindeutig dürren Frage, welche Absichten ihn nach Konstantinopel führen. Lepsius erwidert, er sei ohne bestimmten Zweck in diese Stadt, die er sehr liebe, gekommen, nur um sich ein wenig zu erholen. Das mit dem mangelnden Ziel stimmt übrigens. Der Pastor hat keine bestimmte Vorstellung von dem, was er werde unternehmen können. Er weiß nur, daß er bei den Türken und nun auch bei den Deutschen verfemt ist. Jener vortreffliche Korvettenkapitän von der Botschaft zum Beispiel, der seine Unterredung mit Enver Pascha damals so mühsam zustandegebracht hat, begegnet ihm auf einer Straße von Pera und schaut auffällig fort. Gott weiß, was für niederträchtige Lügen über ihn im Schwange sind! Oft überläuft es ihn eisig bei dem Gedanken, daß er in der türkischen

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