Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
Vom Netzwerk:
milderte sich der Druck, der auf dem Volke des Musa Dagh lag. Auch die grimmigen Matronen gedachten kaum mehr des Hauses Bagradian und seiner Schande, jenes peinlichen Geschehnisses, das knapp vorher zu einem kleinen Aufruhr der Tugendhaften geführt hatte. Vom Hause Bagradian war freilich niemand anwesend, nicht einmal der gute Awakian zeigte sich, diese gründliche und skrupelhafte Seele, die den Patron sonst immer vertrat. Es geschah zum erstenmal, daß Gabriel Bagradian bei einem so denkwürdigen Anlaß unter der Führerschar fehlte. Niemand aber schien den Feldherrn und Sieger der drei großen Türkenschlachten zu vermissen, ihn, dem das Volk der sieben Dörfer es einzig und allein zu verdanken hatte, wenn ihm noch ein paar tausend Atemzüge vergönnt waren. Ter Haigasun aber und der Führerrat begrüßten es stumm, daß der Mann, dem solche öffentliche Schande widerfahren war, ihnen die Verlegenheit ersparte, über das Geschehene hinwegzusehen. Morgen oder übermorgen würde sich alles wieder verändern und der allgemeine Unmut der Gleichgültigkeit gewichen sein. Wenn es sich logisch auch nicht begründen läßt, seit einigen Stunden war durch der Französin Schuld auch Gabriel und alles, was zu ihm gehörte, zum beargwöhnten Fremden und Eindringling geworden.
    Am schwersten aber war Stephan getroffen. Welch ein Sturz an einem einzigen Tag! Mit dem Durchfall bei der freiwilligen Meldung hatte es begonnen. Er, der Eroberer der Haubitzen, war nicht als würdig befunden worden, Haik zu begleiten. Doch nicht genug damit! Papa hatte ihn mit höhnischen Worten mißhandelt und angesichts Iskuhis, angesichts der kaum zu ihm bekehrten Kameraden zu einem Weichling erniedrigt. Es ist sehr begreiflich, daß der ehrsüchtige und in seiner Ehre verwundete Junge aus den harten Worten des Vaters nicht die verborgene Angst herausfühlte, sondern nur Mißachtung und Haß. Dieser Vater hatte damit den andern selbst das Signal gegeben, Stephan von seinem hitzig verteidigten Rang hinabzuschleudern, und die Horde war der Aufforderung unverzüglich nachgekommen. Selbst dem einbeinigen Hagop war das boshafte Hohngelächter nicht in der Kehle stecken geblieben, als der Geschlagene den Ort seiner Niederlage verlassen mußte. Und doch, vielleicht wäre noch alles gut geworden, wenn Mama nicht am Nachmittag das grausame Werk des Vaters vollendet hätte. Trotz der gemeinen Worte, deren Bedeutung Stephan halb und halb verstand, besaß er keine rechte Vorstellung für jenes folgenreiche Ereignis, oder besser, seine Vorstellungen verwirrten sich zu einem unerträglichen Krampf, wenn sie in die Nähe der Wahrheit kamen. Dann preßte er beide Fäuste wie ein Läufer fest vor die Brust, staunend, daß ein einziger Brustkasten soviel brennenden Jammer umspannen könne. Alle Ehrsucht und Eitelkeit schwieg. Nur dieser Jammer war da. Stephan hatte sich mit dem Vater überworfen. Er hatte die Mutter verloren, auf dunkle Art, quälender als durch den Tod. Im Laufe der Stunden wurde es ihm immer klarer, daß er weder zu dem einen noch zu dem andern zurückkehren dürfe. Sonderbarerweise empfand er seine Eltern bereits getrennt und als Feinde. Deshalb schon durfte er nicht zurückkehren, wenn auch alles Kindliche in ihm sehnsüchtig danach verlangte. Ehe sein großer Entschluß noch zustande gekommen war, hatte er sich vorgenommen, den Dreizeltplatz zu meiden. Es war doch ganz und gar unmöglich, Monsieur Gonzague wieder zu begegnen und mit ihm die Schlafstätte zu teilen. Auch Gonzague bedeutete übrigens einen dicken Faden in dem Geflecht des Schmerzes. Er hatte, Stephan für voll und gleichberechtigt nehmend, seine Freundschaft gewonnen. Und nun war er in den Augen des Knaben als eine Art gemeiner Verbrecher entlarvt. Gegen Abend hatte sich Stephan, um alle Probleme mit einem Schlag zu lösen, in das Scheichzelt geschlichen und hastig das Notwendigste in seinen Schweizer Rucksack gestopft. Was auch geschehen mochte, er war nicht mehr gesonnen, an Mamas Tisch zu essen und in seinem Bett zu schlafen. Er wollte für sich allein leben, abseits von allen Menschen, wie, das wußte er freilich noch nicht. Später stand er dann ein paar Minuten lang vor Juliettens Zelt, dessen Vorhangtür von innen fest verschnürt war. Kein Wort, kein Laut drang aus dem Raum. Nur der schwache Schein der Petroleumlampe schimmerte hindurch. Schon zuckte seine Hand nach dem Schlegel des kleinen Gongs, der über dem Eingang hing. Doch er überwand die Schwäche und trollte

Weitere Kostenlose Bücher