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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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allem macht das sechs oder sieben Tage, wenn wir geschickt sind. Dann kommen wir an die Reihe. Wenn sie mich also gleich heute erschießen, verliere ich nur sechs, höchstens sieben Tage.«
    Trotz dieser einfachen Bilanz jedoch entfernte sich Vahan Melikentz, als er die Knaben in die Richtung gebracht hatte, mit atemlos großen Sprüngen. Sechs Tage grauenhaften Lebens waren trotz allem sechs Lebenstage. Beim Abschied ließ er einen Klumpen türkischen Honigs in Haiks Hand zurück, den ihm eine mitleidige Muselmanin geschenkt hatte.
    Eine rostrote Abenddämmerung war schon eingebrochen, als sie auf der letzten niedrigsten Stufe des Gebirges standen. Vor ihnen dehnte sich die Ebene bis zum Horizont. Sie sahen zu ihren Füßen einen großen See, auf dessen milchig stummer Fläche der schal gefärbte Abend lag. Es war der See von Antiochia, den man auch von gewissen Späherpunkten des Damlajik in der Ferne sehen konnte. Hier aber erschien Ak Denis, das weiße Meer, zum Greifen nah. Die nördliche Küste des Sees war von einer breiten Schilfkrause eingesäumt, in der ein klunkendes und stöhnendes Leben herrschte. Reiher taumelten mit ungeschicktem Flügelschlag aus dem Röhricht, silberne und purpurne; sie kreisten hoch über der Fläche, ihre zierlich abgebogenen Beine gleichsam im Kielwasser des Fluges nachziehend. Dann senkten sie sich wieder langsam zu ihren Brutplätzen hinab. Ein Keil von Wildenten ratterte mit torpedohafter Geschwindigkeit durch die molkige Flut, um auf einer Schilfinsel zu landen. Bis zu den Ohren der Knaben drang der Streit der Rohrspatzen und das menschliche, ja beinahe politische Räsonieren von zehntausend aufgeblähten Riesenfröschen. Der Röhrichtkragen des Ak Denis verlor sich nur allmählich in der Ebene. Weit hinaus waren immer wieder dicke Büschel zu sehen, doch auch Tümpel, blinde Augen, in denen das Weiße zitterte. Im Gegensatz zu der leeren Steppe wirkte das um den See geballte Leben beinahe übertrieben. Er glich einer märchenhaften Tierleiche, an der die buntesten Totenvögel zehrten. Während Stephan nur den See ins Auge faßte, hatte Haiks scharfer Blick sofort die Nomadenzelte entdeckt, die gegen Osten hin verstreut waren, sowie ein paar Pferde, die im rauchigen Nichts kopfhängerisch weideten. Er streckte zielbewußt den Arm aus:
    »Dort ist unser Weg. Zwischen der Straße und den Sümpfen. Wenn der Mond herauskommt, gehen wir. Gib deine Flasche her! Ich werde Wasser bringen. Hier ist das Wasser noch gut. Wir müssen viel trinken. Inzwischen kannst du schon schlafen.«
    Stephan aber schlief nicht, sondern wartete, bis der Gefährte mit den beiden frischgefüllten Flaschen zurück war. Gehorsam trank er, soviel er nur konnte. Ans Essen dachten sie beide nicht. Haik breitete seine Decke aus, um sich hineinzuwickeln. Stephan aber kroch zu ihm. Die kühle Schlaf-Nachbarschaft des Morgens genügte ihm nicht mehr. Er konnte sein angstvolles Bedürfnis nach Liebe und Freundschaft nicht bezwingen. Und siehe, Haik verstand ihn, Haik war nicht mehr kalt und verschlossen, Haik wies ihn nicht ab. Ja, die trauliche Nähe des Bagradian-Sohnes schien ihm nicht unwillkommen zu sein. Wie ein älterer Bruder zog er ihn an sich und deckte ihn zu. Die beiden Knaben hielten sich im Schlafe umarmt.
     
    Stephan und Haik betraten die Ebene. Wider alles Erwarten zeigte es sich aber, daß der schluchtenreiche, widerborstige Musa Dagh ein weit bequemeres Marschterrain geboten hatte, als dieser weite Plan, der sich El Amk, die Einsenkung, nennt. Der heimtückisch schwingende, mit grün-braunem Grind bedeckte Boden war schon sehr feindselige, gar nicht mehr christliche Erde.
    Es gehörte Haiks ganze Sinnenschärfe und fast unmenschliche Naturvertrautheit dazu, diesen Weg zu wagen, und überdies noch bei Nacht. El Amk war ja nichts andres als ein Göl, ein Sumpf von etwa zehn Kilometern Länge, dessen Rand haargenau eingehalten werden mußte. Nicht viele Hirten, Bauern und Nomaden gab es, die den Mut zu dieser Abkürzung hatten, um das lange Straßenstück bis zur Kara-Su-Brücke zu ersparen. Eine andere Möglichkeit aber gab es für die Knaben nicht, da Vahan Melikentz ja von Militär, Saptiehs und Inschaat Taburi berichtet hatte, die über die ganze Straße verteilt seien. Haik hatte seine Schuhe abgestreift, um den Boden mit nackten Sohlen »besser schmecken« zu können. Stephan folgte seinem Beispiel. Er hatte es bekanntlich schon längst aufgegeben, sich durch eigene Leistungen hervorzutun. Sie

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