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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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liefen wie auf einer sehr dünnen, sehr warmen Brotrinde, unter welcher die Schmolle gärte. Diese Rinde war überall rissig und aus den Rissen stieg ein dicker schwefelhaltiger Brodem empor. Stephan zeigte sich klug genug, in Haiks Fußstapfen zu bleiben, der mit angespannter Aufmerksamkeit die Beine setzte, einem Tänzer gleich, der genau vorgeschriebene Figuren auszuführen hat. Während dieses Tanzes begannen wirre Gedanken in seinem Kopf zu schaben und zu kratzen:
    »Alle Menschen gehen auf der Straße. Warum dürfen wir nicht auf der Straße gehen? … Warum sind wir überhaupt Armenier?«
    Haik fuhr ihm zornig über den Mund:
    »Frag nicht so blöd! Paß lieber auf! Wo es grün ist, da tritt nicht hin! Verstanden?«
    Da versuchte Stephan wieder in den guten Stumpfsinn zu verfallen, der am besten körperliche Mühsal ertragen hilft. Er tanzte getreulich hinter Haik einher, der auf der gefährlichen Rinde einen Weg voll sonderbarer Kurven beschrieb. So ging es eine Stunde, zwei Stunden, während welcher der Mond bald gutmütig hervorkam, bald bösartig verschwand. Dennoch nahm aber trotz des Riesenweges, den sie hinter sich hatten, Stephans Erschöpfung mit der fortschreitenden Nacht eher ab. Halbes Denken und halbes Fühlen begann sich schmerzhaft wieder zu sammeln wie Grundwasser. Unbezwinglich stieg es in ihm auf. Er mußte sprechen, wie sehr er sich auch vor Haik jetzt fürchtete:
    »Also ist es wahr, wir werden unsere Leute (eine intimere Bezeichnung vermied er) nie mehr sehen?«
    Haik unterbrach seinen figurenhaften Gang nicht. Es dauerte eine Weile, ehe er, wieder auf besseren Boden gelangend, eine Antwort gab. Diese aber glich trotz ihrer christlichen Gewißheit mehr einem Fäusteballen als einem Händefalten:
    »Ich werde die Mutter bestimmt wiedersehen!«
    Es war das erste innere Bekenntnis, das Stephan aus dem Munde Haiks hörte, seitdem er ihn kannte. Da aber der Schüler Pariser Gymnasien diese Glaubensfestigkeit des groben armenischen Gebirgsburschen nicht besaß, wurde er kleinlaut und verlegen:
    »Aber auf den Damlajik können wir doch nicht wieder zurückkommen …«
    Man merkte es dem sprungbereiten Knurren Haiks an, daß ihm dieses Gespräch herzlich widerstand:
    »Den Damlajik haben wir hinter uns. Wenn Christus es will, kommen wir lebendig nach Aleppo. Dort versteckt uns Jackson im Konsulat. So steht es im Brief, ..« Und mit verletzendem Nachdruck … »Von dir steht freilich nichts in dem Brief.«
    Stephan aber war jetzt ganz und gar nicht mit sich beschäftigt, sondern mit Papa und Mama, die er auf ganz unsinnige Art verlassen hatte; warum, das wußte er jetzt selbst nicht mehr. Seltsam verschob sich das ganze Leben. Der Damlajik wurde zu einer wüsten Phantasie, alles Frühere aber zur eigentlichen, sauberen und wohlbestellten Wirklichkeit. Jackson mußte alles tun, um diesen Unsinn zu korrigieren. Es ging doch wohl nicht an, daß ein Stephan Bagradian in die Lage kam, seine Eltern nicht wieder zu sehen. Er stellte, gewissermaßen schon aus dem Kopf des Konsuls heraus, allerlei Erwägungen an.
    »Jackson wird kabeln. Nach Amerika kabelt man nämlich. Glaubst du, werden die Amerikaner Schiffe schicken, um unsere Leute abzuholen?«
    »Wie soll ich das wissen, Hammel?«
    Haiks beschleunigter Gangart war der Zorn anzumerken. Der eingeschüchterte Stephan mußte seine Seelennot hinabwürgen und sich beeilen, um hinter dem Führer nicht zurückzubleiben. Obgleich kein Wind ging, war es ihm, als brandeten Luftwirbel gegen seine Brust und ließen ihn nicht vorwärts kommen. Er konnte und konnte über diese ganze Geschichte nicht mit sich ins reine kommen. Sein Kopf fing zu schwanken an. Ein starker Atemzug des Mondlichts erfüllte die Welt. Ein smaragdgrüner Strich schwamm auf Stephan zu. Für einen Augenblick verlor er das Bewußtsein der Gefahr aus dem Sinn.
    Der gräßliche Schrei bannte Haik fest. Sofort wußte er, was geschehen war. Schattenhaft kämpfte Stephans Gestalt. Bis zu den Knien war der Bagradiansohn schon eingesunken. Haik zischte:
    »Ruhe! Schrei doch nicht!«
    Doch das unfaßbare Entsetzen zwang diese Schreie immer wieder hervor, derer sich Stephan nicht erwehren konnte. Er glaubte zwischen die walfischartigen Kiefer eines Ungeheuers geraten zu sein, das ihn langsam einsaugte und einschmatzte. Schon schob sich die wulstig zähe Masse über seine Knie. Trotz allem aber war in den Sekunden, in denen er sich nicht wehrte, ein seltsam wohliges Gefühl. Haik

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