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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Gottespflicht durch irgend eine profane Frage zu unterbrechen.
    Haik war es mittels vieler Rasten gelungen, Stephan über den Damm Dschisir Murad Pascha bis zur Grenze dieses Hügeleilands zu schleppen. Angesichts des Bauernhauses hatte er ihm noch einmal eingeschärft, alles, was er tue, genau nachzuahmen und den Mund so wenig wie möglich zu öffnen, da er nur ein paar türkische Worte spreche, und dies auf die verräterischeste Art. Was aber das muslimische Gebet anbelange, so bedeute es keine Sünde, wenn man dabei mit Aufmerksamkeit ein Vaterunser nach dem anderen flüstere. Letzteres aber vermochte Stephan nicht. Leblos steif wie eine Holzpuppe brachte er nur mit äußerster Kraftanstrengung eine matte Kopie von Haiks religiösen Verrenkungen zustande. Nachher sank er sogleich auf seiner Decke zusammen, den frischen Morgenhimmel mit glasigen Augen bestarrend. Der turkmenische Bauer, ein älterer Mann schon, trat wiegenden Ganges auf das verdächtige Paar zu:
    »Ihr Schlingel da? So früh auf der Straße, he? Was gibt es? Was sucht ihr?«
    Glücklicherweise redete er selbst irgend ein Dialekt-Türkisch, sodaß Haiks armenische Aussprache nicht besonders auffiel. In Syrien, diesem großen Mischkrug der Völker, waren übrigens auch alle Sprachen durcheinandergeschüttelt. Der Wort-Klang konnte daher dem Turkmenen kein Mißtrauen einflößen:
    »Sabahlar hajr, olsun! Guten Morgen, Vater! Wir kommen von Antakje. Haben die Eltern auf dem Weg verloren. Die sind mit ihrem Wagen nach Hammam gefahren. Wir wollten ein bißchen laufen und haben uns verirrt. Dieser da, Hüssein, wäre fast ertrunken. In den Sümpfen. Sieh dir ihn nur an! Jetzt ist er krank. Kannst du uns nicht ein Plätzchen geben, damit wir uns ausschlafen?«
    Mit der Gebärde der Weisheit griff sich der Turkmene in den grauen Bart. Dann stellte er, die Partei der Knaben nehmend, folgende gerechte Erwägung an:
    »Was sind das für Eltern, die ihre Kinder mitten im Sumpf verlieren und weiterfahren? … Ist der hier dein Bruder?«
    »Nein, er ist nur ein Verwandter und auch aus Antakje. Ich heiße Essad …«
    »Nun dieser dein Hüssein scheint wirklich krank zu sein. Hat er vielleicht Sumpfwasser getrunken?«
    Haik wartete zur Entgegnung mit einem frommen Spruch auf, dann senkte er den Kopf:
    »… Gib uns zu essen und zu schlafen, Vater!«
    All diese Verstellung wäre nicht nötig gewesen, denn das Herz des Türken war voll Güte. Seit Monaten schon zogen die Transporte der Ausgestoßenen an seinem Hause vorüber. Er hatte so manchem armenischen Kranken, so mancher armenischen Schwangeren, die auf der Straße zusammengebrochen war, mit Speis und Trank, mit Kleid und Schuh stille Wohltaten erwiesen, nach seinem Vermögen und ohne allzuoft des jenseitigen Lohnes zu gedenken. Bei diesen guten Werken mußte man aber der Saptiehs wegen äußerst vorsichtig sein. Auf das Verbrechen des Mitleids mit Armeniern stand laut den neuen Gesetzen Bastonade, Gefängnis und in schweren Fällen der Tod. Hunderte von gutherzigen Türken rings im Land, denen das unmenschliche Elend der Deportierten das Herz zerbrochen hatte, wußten ein Lied davon zu singen. Der Bauer unterzog die beiden Landstreicher einer eingehenden Betrachtung. Die Tausende von Armenieraugen, die dort auf der Straße zu ihm emporgebettelt hatten, erwachten in seiner Erinnerung. Das vergleichende Ergebnis war ziemlich eindeutig, insbesondere was den Kranken anbetraf. Doch gerade dieser sogenannte Hüssein weckte das Erbarmen des Turkmenen lebhafter als der sogenannte Essad, der erstens gesund war und zweitens hoffnungsvoll durchtrieben zu sein schien.
    Der Hausvater ließ nun einen kurzen Ruf erschallen und alsbald traten zwei Weiber, eine Alte und eine Junge, aus der Tür, die angesichts der Fremden eilfertig ihren Schleier herabließen. Sie bekamen einige barsche Befehle und verschwanden wieder mit geschäftigen Schritten. Der Turkmene führte Haik und Stephan ins Haus. Neben der raucherfüllten Hauptstube, in der man kaum atmen konnte, lag eine kleine leere Kammer, eine Art Verließ, das nur durch eine Scharte Licht empfing. Die Jungen stolperten über eine Stufe in dieses finstre Loch. Indessen hatten die Weiber Matten und Decken gebracht. Sie bereiteten auf dem Lehmboden der Kammer zwei Lagerstätten. Als sie aber Stephans Glieder sahen, die noch immer in den erstarrten Schlammkrusten wie in Hülsen staken, holten sie ein Schaff mit heißem Wasser sowie eine unheimliche Bürste und begannen mit

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