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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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mütterlich resoluter Kraft die Arme und Beine des Armenierknaben abzureiben. Bei diesem anstrengenden Werk lüftete die Ältere sogar den Schleier, da es sich hier ja um halbwüchsige Kinder handelte. Unter der kräftigen Handhabung der Bäuerinnen geschah es, daß sich nicht nur von Stephans Körper alles Erstarrte löste, sondern auch von seinem Gemüt. Wie kochende Flut wallte in ihm das unterdrückte Heimweh auf. Er preßte die Lippen zusammen, während seine Augen verräterisch zwinkerten. Von diesem kindlichen Schmerz ergriffen, sparten die turkmenischen Weiber nicht mit fremdartig-melodischem Zuspruch. Nachher brachte das alte Bauernweib eine Schüssel mit Graupen in Ziegenmilch, Fladenbrot dazu und zwei hölzerne Löffel. Während die Jungen aßen, kam die ganze vielköpfige Familie des Turkmenen zum Vorschein, um sich teils im Verließ, teils im Türausschnitt mit ermunternden Nötigungen am Werke ihrer eigenen Gastfreundschaft zu erfreuen. Doch trotz der gastlichen Wirte und der warmen Speise konnte Stephan kaum fünf Löffel hinunterwürgen, so eng und geschwollen war seine Gurgel. Haik aber vertilgte die ganze Schüssel mit der ernsten Nachdenklichkeit eines essenden Schwerarbeiters.
    Von der neugierigen Familie allein gelassen, schlief Stephan sofort ein, während der besonnene Haik noch rasch den Marschplan für den nächsten Wegabschnitt überlegte. Er hoffte, daß auch Stephan am Abend wieder bei Kräften sein werde, sodaß man bei Mondaufgang aufbrechen konnte. In der Nacht ließ sich die Strecke bis Hammam ohne Schwierigkeiten zurücklegen. War die Straße frei, umso besser, war sie nicht frei, so mußte man sich ein wenig abseits am Fuße des Hügelgeländes halten. Diese Hügel boten auch ohne Zweifel den besten Unterschlupf für den nächsten Tag, wenn man über Hammam hinaus den Punkt erreicht hatte, wo das große Bogenstück der Straße in der Sehne abgeschnitten werden sollte. Trotz allen Zwischenfällen war Haik mit dem bisher Geleisteten zufrieden. Die größten Gefahren lagen noch vor ihnen, aber die größten Strapazen waren überwunden. Leider täuschte sich Haik über Stephans Kräfte. Ein Wimmern und Stöhnen riß ihn aus dem tiefen Ermüdungsschlaf, dem er sich hier in der sicheren Kammer ohne Vorbehalt überlassen hatte. Stephan hockte, unter Schmerzen sich krümmend, auf seiner Matte. Fürchterliche Koliken zerschnitten seinen Leib, die Folgen des Abenteuers in den Sümpfen von El Amk. Auch zeigte es sich erst jetzt, daß seine Haut über und über mit Moskitostichen besät war. Nun konnte man an Ruhe nicht mehr denken. Die Hausleute benahmen sich weiter freundlich mitleidsvoll. Die Weiber hitzten runde Steine, die sie dem Jungen auf den Bauch legten, und bereiteten einen vielleicht heilsamen, doch umso widerlicheren Tee, den Stephan nicht bei sich behalten konnte. Erst gegen Abend ließ das Übel nach, das den Ärmsten unzählige Male gezwungen hatte, hinter das Haus zu wanken. Stephan war zum Schatten geworden, doch auch Haik, um den schwerverdienten Schlaf gekommen, sah grün und hinfällig aus.
    Der Bauer hatte »Essad« und »Hüssein« erlaubt, ihr Nachtlager auf dem Hausdach aufzuschlagen. Seit Wochen schon in freier Luft lebend, konnten sie es in dem dumpfigen Loch voll Rauch, Ungeziefer und ranzigem Fettgeruch nicht aushalten. Nun saßen sie auf ihren Matten zwischen Pyramiden von Maiskolben, hochgeschichteten Schilfbündeln und Haufen von Süßholzwurzeln. Stephan blickte, fieberfröstelnd in seine Decke gewickelt, unablässig nach Westen. Zu dieser vorabendlichen Stunde bauten sich die Küstengebirge dort drüben höher auf als sie waren, in vielen einander überwachsenden Schichten und in den reichsten Tinten, vom tiefen Saphirblau bis zum silberhauchigen Grau. Und so unglaubwürdig nahe waren die Berge. Hatten Haik und Stephan wirklich zwei volle Nächte und einen halben Tag durchwandern müssen, um diesen Katzensprung zurückzulegen? Dort der letzte Berg im Süden, der scharf abbrach, das mußte der Damlajik sein. Wie ein Wild auf der Flucht vor den Jägern war er mitten im gestreckten Lauf erstarrt. Sein langer Rücken senkte sich gegen Norden. Den Kopf duckte er zwischen den vorgelagerten Höhen. Seine Pranken aber schlugen wild nach hinten aus, wo die breite Orontes-Lücke das Meer ahnen ließ. Stephan sah nur den Damlajik. Er glaubte die Südbastion zu unterscheiden, die Kuppen, die Scharte der Steineichenschlucht, den Nordsattel, wo er vor unendlicher Zeit

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