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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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kommandierte:
    »Einen Fuß zuerst! Rechts! Rechter Fuß!«
    Kleine Angstlaute ausstoßend, machte Stephan untaugliche Bewegungen. Seine Beine hatten keine Kraft mehr. Er hörte jetzt einen neuen scharfen Befehl:
    »Auf den Bauch legen!«
    Gehorsam beugte er sich vornüber, so daß er das trockene Land mit den Fingerspitzen erreichen konnte. Als Haik sah, daß Stephan die Energie fehlte, sich herauszuarbeiten, schob er sich selbst auf dem Bauch zu der Sumpfstelle hin. Der Stock jedoch, den der Eingesunkene ergriff, genügte auch nicht, um ihm Kraft genug zu geben. Da löste Haik das Gürteltuch, das er um den Kopf geschlagen hatte, und warf es Stephan hin, damit er es mit einem Knoten um seine Brust befestige. Eisern hielt er es auf der anderen Seite fest. Es diente als eine Art Rettungsseil. Nach endlosen Versuchen konnte Stephan schließlich das rechte Bein, das nicht allzuweit eingesaugt war, freibekommen. Eine gute halbe Stunde war vergangen, als Haik ihn wie einen Ertrunkenen auf die feste Erde zog. Eine weitere halbe Stunde verging, ehe sich Stephan soweit erholt hatte, um, von Haik nunmehr an der Hand geführt, auf dem tückischen Boden weiter taumeln zu können. Er war bis zur Brust hinauf mit Schlamm bedeckt, der an der Luft rasch trocknete und unter seiner festen Kruste die Haut der Arme und Beine zusammenzog. Ein günstiger Umstand war es noch, daß Stephan seine Schuhe in den Rucksack gesteckt und diesen während des Kampfes mit dem Sumpf weit von sich aufs Trockene geschleudert hatte. Mit festem Griff führte Haik den Halbbewußtlosen. Er schalt ihn nicht wegen seiner Unvorsichtigkeit, sondern wiederholte mehrmals wie eine Beschwörung:
    »Wir müssen bei der Brücke sein, ehe es hell wird. Vielleicht stehn Saptiehs dort …«
    In dem Bagradiansohn raffte sich noch einmal aller Stolz und Ehrgeiz auf:
    »Jetzt kann ich … schon wieder gut gehn …«
    Als sie sich gegen Norden wandten, wurde der Boden sicherer. Das matratzenartige Schwingen hörte auf. Stephan löste sich von Haik und warf seine Beine in scheinstrammem Takt. Aus der Ferne kam ein Wehen und Glitzern. Haiks Sinne spürten den Kara-Su-Fluß. Bald kletterten sie über den Damm auf die Straße, die wie ein breiter Lichtstreif die Nachtwelt erleuchtete. Das Postenhäuschen an der Brücke war leer. Wie vom Teufel gejagt, rannten die Jungen an dieser allergrößten Gefahr vorbei, die nun zum Glück keine war. Diesmal aber wirkte die glatte Heerstraße ganz anders auf Stephan als am Nachmittag. Der geebnete Boden der Zivilisation raubte seinen Gliedern die letzte Kraft. Hinter der Brücke wurde sein Schritt immer stockender. Er begann im Zickzack zu schwanken und legte sich plötzlich mitten auf die Fahrbahn hin. Haik starrte zu ihm nieder. Zum erstenmal zeigte er Verzweiflung:
    »Ich verliere Zeit …«
    Etwa eine Stunde jenseits der Brücke läuft die Straße auf einem langen hochgebauten Steindamm über den letzten großen Sumpf von El Amk. Der Damm heißt Dschisir Murad Pascha und eröffnet recht eigentlich das große Steppenland, das viele hundert Meilen über Aleppo und den Euphrat hinaus sich bis nach Mesopotamien erstreckt. Nicht weit aber von diesem Damm erhebt sich an der nördlichen Straßenseite die reizendste Hügellandschaft wie eine letzte grüne Herzlichkeit vor Tod und Erstarrung. Am Fuße dieser Hügelwelt liegt ein großes Turkmenendorf, Ain el beda, Klare Quelle. Allein schon lange bevor sich die Siedlungen zu diesem Dorfe zusammenschließen, begegnet die Straße einzelnen Häusern aus Holz und Stein, auffallend blanken Bauerngehöften. Hier hatte vor fünfzig Jahren die Regierung Abdul Hamids einen der turkmenischen Wanderstämme seßhaft gemacht. Niemand gibt einen besseren und strengeren Bauern ab als solch ein bekehrter Nomade. Dies bewiesen die festgebauten und wohlgedeckten Behausungen dieser sanften Gegend.
    Das erste der Gehöfte lag dicht an der Straße. Eine Stunde nach Sonnenaufgang trat der Besitzer aus der Haustür, prüfte Wind, Wetter, Weltrichtungen und breitete seinen kleinen Teppich aus, um, gen Mekka gewandt, das früheste der fünf täglichen Gebete zu verrichten. Der Fromme bemerkte die beiden Jungen erst, als auch sie, dicht vor dem Haus auf ihren Decken hockend, die vorgeschriebenen Beugungen und Wendungen des Gebetes in der gleichen Vollständigkeit ausführten wie er. Dem Turkmenen gefiel diese frühmorgendliche Inbrunst der Jugend, doch als ruhevoller Moslem dachte er nicht daran, seine langwierige

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