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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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getan.«
    »Ich tue ihnen nicht unrecht. Es gibt unter ihnen wunderbare Leute. Ich habe schließlich im Krieg auch das niedre Volk kennen gelernt, in seiner Geduld und Güte. Sie sind nicht schuld und wir sind nicht schuld. Aber was hilft das?«
    Das Morgengrauen wuchs und die Linie des Musa Dagh der in das Schlafzimmer schaute, begann schärfer zu werden. Die Augen Gabriels hingen an dem Berg:
    »Ich habe darüber nachgedacht, wie sonderbar es doch ist, daß wir Awetis nachgereist sind und er sich mir immer wieder entzogen hat. Als wenn er mich durch seinen Tod hätte nach Yoghonoluk locken wollen … Nein! Eigentlich hast ja du darauf bestanden, hierher zu gehn.«
    Es wurde kalt. Juliettens nackte Füße froren. Friedfertig stimmte sie bei:
    »Siehst du? Es war mein Eigensinn. Das kann dich doch beruhigen.«
    Gabriels Gedanken aber hatten ein anderes Ziel:
    »Gestern habe ich einen Augenblick lang das felsenfeste Gefühl gehabt, daß eine höhere Macht mich leitet, daß Gott irgend etwas mit mir vorhat. Es war wirklich ein felsenfestes Gefühl, wenn es auch schnell vorübergegangen ist … Das Leben, das ich geführt habe, war wohl nicht das rechte. Es ist so angenehm, sich einzubilden, man sei eine außergewöhnliche Persönlichkeit, ein hervorragendes Staubkorn, das an die Schwerkraft nicht gebunden ist und ohne Verpflichtung im Weltraum vagabundieren darf … Da hat mich Gott durch Awetis und durch seinen Willen in das alte Land zurückgeführt …«
    Er schwieg. Juliette aber forschte lange in seinen undeutlichen Zügen:
    »Ich sehe das erstemal an dir Angst.«
    Noch immer wandte er die Augen nicht von dem wachsenden Musa Dagh ab:
    »Angst? Wie vor etwas Übernatürlichem! Als Kind habe ich mir oft vorgestellt, daß ein kleines Sternchen am Himmel plötzlich größer wird, anschwillt, näher und näher kommt und die Erde zerdrückt …«
    Er schüttelte sich, um seiner endlich Herr zu werden:
    »Juliette! Nicht um mich geht es. Es geht um dich und Stephan.«
    Da wurde sie endlich sehr böse:
    »Ich glaube an all deine Gefahren nicht. Wir leben im Jahre 1915. Ich habe in der Türkei wie überall in der Welt nur Freundlichkeit und Galanterie erlebt. Ich fürchte mich nicht vor den Menschen. Aber selbst wenn eine Gefahr droht, glaubst du wirklich, ich würde so feig und gemein sein, davonzulaufen und dich sitzen zu lassen? … Das täte ich nicht einmal dann, wenn ich dich nicht mehr gern hätte.«
    Er sagte nichts mehr und schloß die Augen. Juliette wollte sich schon leise erheben. Gabriel aber ließ den Kopf in ihren Schoß gleiten. Seine Stirne war kalt und naß. Jäh mit einem Schlag begannen die Vögel ihr morgenschrilles Durcheinander.

Viertes Kapitel Das erste Ereignis
    Diese Anwandlung der Schwäche und Verzagtheit ging so schnell vorüber, wie sie gekommen war. Dennoch schien Gabriel seit dem Tage von Antiochia nicht mehr derselbe. Er, der sonst stundenlang in seinem Zimmer gearbeitet hatte, verbrachte jetzt meist nur die Nächte zu Hause. Dann aber war er sehr müde und schlief wie ein Toter. Über das Drohende, das ihn in der letzten Sonntagsnacht so tief verstört hatte, sprach er kein Wort mehr. Auch Juliette vermied es, die Rede darauf zu bringen. Sie war überzeugt, daß nichts Bedenkliches dahinter steckte. In ihrer Ehe hatte sie schon drei- oder viermal krisenhafte Zeiten an Gabriel miterlebt. Wochen einer schweren und grundlosen Verstimmung, Tage eines brütenden Verstummens, das sich durch kein freundliches Mittel lösen und aufheitern ließ. Sie kannte das. In solchen Zeiten wuchs die Wand zwischen ihnen auf, das Fremde, das Unüberwindliche, und sie war dann über ihren kindlichen Mut erschrocken, der sie verleitet hatte, ihr Leben an dieses schwere Blut zu ketten. Freilich, in Paris war es für Juliette anders gewesen. Die eigene Welt, in der Gabriel der Fremde war, stand als Übermacht hinter ihr. Hier aber in Yoghonoluk hatte sich ihre Lage verkehrt, und es ist sehr begreiflich, warum sich Juliette bemühte, bei aller Ironie ihr Wohlwollen für die »Halbwilden« in sich zu verstärken.
    Man mußte ihn in Ruhe lassen. In jenem qualvollen Nacht-Gespräch sah Juliette nichts anderes als wieder eine der Verfinsterungen, die sie schon kannte. Die in unendlicher Sicherheit aufgewachsene Französin besaß nicht die geringste Vorstellungsgabe dafür, was Gabriel den Wüstensturm genannt hatte. Europa war ein Schlachtfeld. Es hieß, daß die Menschen in Paris wegen der Fliegerangriffe ihre

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