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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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nach. Die Pastorin vergaß, ihren Gatten, dessen Leben sie energisch zu verlängern gedachte und der deshalb in seinem Schlaf nicht verkürzt werden sollte, zum Aufbruch zu mahnen. Die Muchtarsfrau hatte sich Juliette genähert, um den Seidenstoff ihrer Robe zwischen den kostenden Fingern zu begutachten. Mairik Antaram aber war plötzlich verschwunden. Ihr Mann hatte sie durch einen kleinen Jungen abberufen lassen, damit sie ihm bei der schwierigen Entbindung Hilfe leiste und die alten Hexen verjagte, die in solchen Fällen immer das Haus der Gebärenden belagern, um ihr mit Zaubermitteln beizustehn. Madame Altouni war im Laufe der Jahrzehnte eine vollwertige Gehilfin des Arztes geworden, dem sie einen großen Teil seiner Praxis abnahm. Sie taugt mehr als ich, pflegte er zu behaupten.
    Nun sang man das Lob Mütterchen Antarams. Es habe mit ihr eine eigene Bewandtnis. Sie opfere sich auf. Allen Frauen in ihren Nöten, Jungen und Alten, stehe sie bei mit mütterlichem oder schwesterlichem Rat. Sie empfange sogar Briefe von auswärts. Das komme daher, weil sie Askanuwer Hajuhiaz Engerutiun, der Allgemeine Armenische Frauenverein, zu seiner Vertreterin in dem ganzen Bezirk gemacht habe. Nur Frau Kebussjan gab eine kritische Begründung für Antarams Seelengüte:
    »Sie ist ja kinderlos.«
    Der Muchtar aber lauschte mit seinem Schwerhörigenkopf und dem leicht schielenden Blick einem Vortrag des Apothekers, der die Vorzüge der chinesischen Seidenverarbeitung mit den genauesten Einzelheiten dem heimischen Gewerbe entgegenstellte. Kebussjan schlug sich aufs Knie:
    »Unser Krikor, was!? Da geht man jahrzehntelang in seine Apotheke und kauft Petroleum und Magenpulver und weiß nicht, was das für ein Mann ist!«
    Am längsten brauchte der Hausherr, um aufzutauen. Dies geschah aber von einem Augenblick zum andern. Unzufrieden musterte er den großen Tisch, auf dem Backwerkschüsseln, Tee-, Kaffeeschalen und zwei Karaffen mit Raki standen. Gabriel sprang auf:
    »Meine Freunde! Wir müssen doch etwas Besseres zum Trinken bekommen.« Er ging mit Kristaphor und Missak in den Keller, um Wein zu holen. Awetis der Jüngere hatte für reichliche Einlagerung und Pflege der besten Jahrgänge gesorgt. Dem Verwalter war die Obhut übertragen. Die starken Weine des Musa Dagh freilich hielten sich nicht lange. Vielleicht kam das daher, weil sie anstatt in Fässern, der altertümlichen Sitte gemäß, in großen versiegelten Tonkrügen aufbewahrt wurden. Es war ein dunkelgoldner Trank, sehr schwer, den Weinen ähnlich, die in Xara am Libanon gedeihen. Als man die Gläser vollgeschenkt hatte, erhob sich Bagradian, um einen Trinkspruch voranzuschicken. Dieser geriet ebenso unbestimmt und düster wie alles, was heute von ihm gekommen war: Es sei schön, daß sie alle hier frohen Herzens beisammen säßen. Wer aber wisse, ob man auch das nächste oder übernächste Mal denselben leichten Sinn werde haben dürfen? Niemand jedoch möge sich in dieser Stunde durch solche Gedanken betrüben lassen, denn sie brächten nichts Gutes.
    Diesen Trinkspruch, der eher eine umwölkte Mahnung war, brachte Gabriel in armenischer Sprache aus. Juliette grüßte mit ihrem Glas zu ihm hinüber:
    »Ich habe dich genau verstanden, jedes Wort … Aber warum so schwermütig, mein Freund?«
    »Ich bin nur ein äußerst schlechter Redner«, entschuldigte sich Gabriel. »Vor ein paar Jahren hat man mir nach Paris geschrieben und eine Stellung in der Daschnakzaganpartei angetragen. Ich habe abgelehnt, nicht nur weil ich mit Politik nichts zu tun haben will, sondern weil ich vor einer großen Menschenversammlung kein Wort herausbrächte. Ein Volksführer ist an mir nicht verloren gegangen.«
    »Rafael Patkanian« – der Apotheker wandte sich erklärend an Juliette – »Patkanian war einer unserer größten Volksführer, ein wahrer Volkserwecker und doch der schlechteste Redner, der sich denken läßt. Er hat ärger gestottert als der junge Demosthenes. Dies aber war gerade die besondere Wirkung seiner Reden. Ich habe selbst in alter Zeit noch die Ehre gehabt, ihn zu kennen und zu hören. In Eriwan.«
    »Sie meinen«, lachte Gabriel, »was nicht ist, kann noch werden.«
    Der schwere Wein erfüllte seine Pflicht. Die Stummen wurden beredt. Lehrer Hrand Oskanian allein wahrte das bittere Schweigen, das er seiner Bedeutung schuldig war. Der Mann Gottes, Nokhudian, der nicht viel vertrug, verteidigte sein Glas gegen die Angriffsversuche der Gattin, die es ihm entreißen

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