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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Mengulje zu sein, von wo freilich Stephan noch immer gute zehn Meilen zu laufen hatte, um die Abzweigung ins Dörfer-Tal zu erreichen. Doch die simple Bauernseele hatte die Findigkeit eines armenischen Schicksals bei weitem unterschätzt. Stephan erwachte unter dem scharfen Licht von Karbidlampen und Blendlaternen, die über sein Gesicht hin- und herfuhren. Uniformgesichter beugten sich zu ihm herab, Schnurrbärte, Lammfellmützen. Der Wagen war mitten in das Lager einer der Kompagnien geraten, die der Wali dem Kaimakam von Antiochia aus der Stadt Killis zu Hilfe gesandt hatte. Die Zelte der Soldaten waren zu beiden Seiten der Straße aufgeschlagen. Nur die Offiziere hatten in Mengulje Quartier genommen. Der Turkmene stand ruhig neben dem Wagen. Vielleicht um seine Bestürzung zu verbergen, begann er das Pferdchen abzuklopfen. Einer der Onbaschis nahm ihn ins Gebet:
    »Wohin willst du? Wer ist dieses Bürschlein da? Dein Junge?«
    Der Bauer schüttelte versonnen den Kopf:
    »Nein, nein! Das ist nicht mein Junge.«
    Er suchte Zeit zu gewinnen, um auf einen guten Gedanken zu kommen. Der Onbaschi brüllte ihn an, er möge das Maul auftun. Glücklicherweise kannte der Alte von den verschiedenen Wochenmärkten her die Ortschaften dieser Gegend genau. Nun seufzte er, den Kopf hin- und herwiegend:
    »Nach Seris fahren wir, nach Seris, das am Fuß der Berge liegt …«
    Er sang diese Worte fast wie ein unschuldiges Lied. Der Onbaschi leuchtete Stephan scharf an. Die Stimme des Turkmenen aber wurde weinerlich:
    »Ja, sieh es nur an, das Kind! Nach Hause muß ich es bringen, zu den Seinen, nach Seris …«
    Inzwischen hatte sich eine große Menge von Unteroffizieren und Soldaten um den Wagen versammelt. Der Alte aber schien plötzlich in eine große Erregung zu verfallen:
    »O geht nicht zu nahe, geht nicht zu nahe, hütet euch …«
    Der Onbaschi erschrak tatsächlich vor dieser Warnung und starrte den Bauern an, der mit dem Finger auf Stephans Gesicht zeigte: »Du siehst ja, daß dieses Kind fiebert und nicht bei Sinnen ist. Tretet weg, ihr da, damit die Krankheit euch nicht ergreift. Der Hekim hat den Jungen aus Antakje fortgeschickt …« Und nun stieß der würdige Turkmene dem Onbaschi das furchtbare Wort geradezu ins Herz: »Fleckfieber!« Nicht einmal die Worte »Pest« und »Cholera« verbreiteten zu dieser Zeit in Syrien ein solches Grauen wie das Wort »Fleckfieber«. Die Soldaten prallten sofort zurück und selbst der grimmige Onbaschi trat drei Schritte hinter sich. Der treffliche Mann aus Ain el beda hingegen zog nun seine Dokumente aus der Tasche und hielt sie dem Unteroffizier, die Überprüfung heischend, aufdringlich unter die Nase. Dieser verzichtete mit einem Fluch auf sein Amt. Binnen zehn Sekunden lag die Straße frei vor dem Wagen. Der Turkmene, durch den gelungenen Streich außer sich vor Stolz und Vergnügen, überließ das geschundene Rößlein sich selbst und lief kichernd neben Stephan einher:
    »Da siehst du, Junge, wie gut Allah es mit dir meint. Hat er es nicht gut mit dir gemeint, daß er dich zu mir geschickt hat? Freu dich, weil du mich gefunden hast! Freu dich! Denn jetzt muß ich mit dir noch eine halbe Stunde weiterfahren, um irgendwo anders zu übernachten …«
    Der große Schreck aber hatte Stephan so gelähmt, daß er von diesen Worten kaum mehr etwas hörte. Als ihn dann später sein Retter aus dem Schlaf rüttelte, konnte er sich nicht rühren. Da nahm ihn der alte Turkmene wie ein kleines Kind in die Arme und stellte ihn auf die Straße, die das Orontesbett entlang nach Suedja führt:
    »Hier ist kein Mensch mehr zu sehen, Junge! Wenn du gut läufst, kannst du noch früher als das Licht im Gebirge sein. Allah tut mehr für dich als für andre.«
    Der Bauer schenkte Stephan noch ein Stück von seinem Käse, ein Fladenbrot und seine Wasserflasche, die er in Antakje frisch gefüllt hatte. Dann schien er ihm noch einen fromm ermunternden Zuspruch auf den Weg zu geben, der mit dem Friedenswunsch schloß: »Selam alek!« Stephan hörte von alldem nichts, da ein großes Ohrensausen in seinem Kopf umging. Er sah nur, wie der helle Turban und der weißliche Bart sich rhythmisch bewegten und beide, Turban und Bart, mit immer lebhafterem Leuchten die Finsternis durchdrangen. Wie leid tat es dem Bagradiansohn um diese milden Lichtquellen, als der stolpernde Hufschlag sich schon entfernte. Der verschwindende Wagen besaß keine Laterne und der Mond war noch nicht aus den Schluchten des Amanus

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