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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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denen ein schweres öffentliches Amt übertragen worden ist. Der Schwarzbart eröffnete das Verhör:
    »Bist du beschnitten oder unbeschnitten, Junge?«
    Stephan verstand nicht. Jetzt erst schmolz sein zutrauliches Lächeln zu einem angstvollen Frageblick. Sein Schweigen erregte den Zorn der beiden Moslems. Harte eifernde Laute hagelten auf ihn nieder. Er wußte trotz ihrer Ausrufe und Gebärden immer weniger, was sie von ihm wollten. Da riß dem Schwarzbart die Geduld. Er packte den Knienden unter den Armen und zog ihn hoch. Der Graue aber entblößte ihn und untersuchte genau, was zu untersuchen war. Nun hatten sie die Bestätigung. Der verschlagene Armenierjunge, der sich stumm und taub stellte, war ein frecher Spion, den die Bergkämpfer ausgesandt hatten. Da war keine Zeit zu verlieren. Sie stießen den taumelnden Stephan vor sich her, den schmalen Talweg von Ain Jerab hinab bis zur großen Straße. Dort hielten sie ihn fest, bis der erste leere Ochsenkarren aus der Umgebung von Antakje des Weges nach Suedja kam. Der Fuhrmann mußte sofort im Namen des öffentlichen Dienstes sein Ziel ändern. Die Schergen hoben ihren Gefangenen in das Gefährt. Der Schwarze hockte sich an seine Seite, während der Graue nebenher schritt und in erregten Worten den Inhaber des Karrens über die Gefahr aufklärte, die er soeben abzuwehren im Begriffe sei.
    Nun aber, da Stephans Schicksal besiegelt war, nahm eine milde Himmelsmacht ihm die Gegenwart völlig von der Seele. Sein Kopf fiel in den Schoß des Schwarzbärtigen, seines tödlichen Feindes. Und sonderbar! Der Grimmige stieß sein Opfer nicht von sich. Er saß starr und rührte sich nicht, als wolle er dem Jungen nicht wehtun. Das glühende Gesicht in seinem Schoß, die offenen Augen, die ihn anschauten und doch nicht sahen, der fiebrische Atem, der die blutroten Lippen blähte, diese ganze kindlich hingegebene Nähe wühlte in dem winzigen Gemütsraum des Schwarzen eine wilde Bitterkeit auf. Die Welt war so und nicht anders. Man mußte in ihr zuschlagen!
    Stephan aber wußte nichts mehr vom Musa Dagh. Er wußte nichts mehr von den Haubitzen, die er erobert, nichts mehr von den fünf schlaftrunkenen Menschen, die er durch fünf Meisterschüsse hingestreckt hatte. Haik war kaum ein Name mehr und Iskuhi nur ein Windhauch. Er aber trug wieder sein gewohntes College-Gewand und Schnürstiefel, die wunderbar fest an den unverwundeten und wohlgebadeten Füßen saßen. Er spazierte über herrliche Großstadtstraßen, die prachtvollen Kais der Seeufer entlang. Er wohnte mit Mama im Palace-Hotel von Montreux. Er saß an heilig weißgedeckten Tischen, er spielte auf Kieswegen, er saß in weißgetünchten Schulzimmern unter anderen Jungen, gehegt wie er. Bald war er kleiner, bald war er größer, doch immer in Obhut und Frieden. Mama aber trug einen roten Sonnenschirm, unter dem ihr Gesicht so tief erglühte, daß er sie manchmal kaum erkannte.
    Dies alles war nicht ereignisreich, doch so ruhig schön, daß Stephan den Saptiehposten gar nicht bemerkte, der vor Wakef auftauchte. Einer der beiden Gendarmen setzte sich als Verstärkung zu dem Schwarzbart auf den Karren und hielt die Füße des Gefangenen fest. In Wakef aber schloß sich eine größere Abteilung von Saptiehs an. Je weiter man im Dörfertal vorwärts kam, um so größeres Aufsehen erregte die Eskorte. Eine beträchtliche Menge der neuen Haus- und Grundstücksbesitzer folgte ihr, Männer, Weiber, Kinder.
    Lange vor Mittag noch erreichte der Zug den Kirchplatz von Yoghonoluk. Eine tausendköpfige Menschenmenge hatte sich zusammengerottet, darunter auch die vielen alten und neuen Soldaten, die jetzt in den Dörfern garnisonierten. Schnell wurde der rothaarige Müdir aus der Villa Bagradian zur Stelle geholt. Die Saptiehs stießen Stephan vom Karren. Er mußte sich auf Befehl des Beamten völlig entkleiden, denn vielleicht verbarg er auf dem nackten Körper irgendeine Schrift. Der Bagradiansohn gehorchte lautlos und voll ruhiger Gelassenheit, was die Menge, als ein Zeichen tiefer Verstocktheit, heftig aufbrachte. Ehe er noch ganz nackt dastand, erhielt er von irgend jemand einen Hieb über den Hinterkopf. Doch auch in diesem Hieb lag Gnade. Er betäubte Stephan nicht ganz, sondern warf ihn nur noch tiefer in jene schöne Welt zurück, in der er sich nun gesittet bewegte.
    Die Saptiehs hatten inzwischen aus dem Rucksack den Kodak und das Schreiben an Jackson hervorgeholt. Der Müdir hielt den photographischen Apparat hoch und

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