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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Leben von hundert Verteidigern für ein tolles Abenteuer aufs Spiel setzen? Stephan hatte schließlich auf eigene Faust nichts andres unternommen als das, was Haik im Auftrage des Volkes tat. Es lag durchaus kein allgemeiner Grund vor, für ihn Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen.
    Mit der Wucht eines Erstickenden warf sich Gabriel Bagradian auf neue Arbeit. Schwäche und Lässigkeit durch die Nahrungsnot gefördert, war in den Zehnerschaften eingerissen. Wer von Linie und Reserve aber bereits Glaubens war, man würde nun dem Tode mit brennendem Magen, doch sonst im Dolcefarniente entgegenwarten dürfen, wurde plötzlich eines anderen belehrt. Die Mannszucht straffte sich schmerzhaft. Tschausch Nurhan erhielt den Befehl, mit den Zehnerschaften tägliche Gefechtsübungen durchzuführen. Es war wie in den ersten Tagen. Niemand durfte, auch in den Freistunden nicht, seinen Posten verlassen. Urlaube für die Stadtmulde wurden nur in den dringendsten Fällen erteilt. Die Reserve bekam harte Arbeit. Für den künftigen Riesenangriff der Türken sollten die Stellungen nicht nur verbessert, sondern zur Täuschung des Feindes teils verlegt, teils durch mächtige Steinschanzen uneinnehmbar gemacht werden. Gabriel, Awakian und Lehrer Schatakhian zeichneten stundenlang an den neuen Plänen, deren Ausbau unverzüglich in Angriff genommen wurde. In diesen Tagen war alles in unablässiger Bewegung. Keiner vermochte der verzweifelten Aktivität Bagradians Widerstand zu leisten. Doch seine fordernde Unrast wirkte, merkwürdig genug, nicht aufreizend und haßerregend, sondern belebte die nachlassende Seelenspannung mit frischer Zuversicht und neuem Kampfesmut. Das Leben der Verteidiger bekam nach einem kurzen Zwischenspiel der Ermattung wieder Ziel und Inhalt.
    Gabriel Bagradian fühlte nicht eigentlich Widerstand gegen seine Person, sondern nur eine verschärfte Einsamkeit. Es ist wahr, auch in der vorhergehenden Zeit hatte sich weder zwischen ihm und den Führern, noch auch zwischen ihm und dem einfachen Manne irgendeine Herzlichkeit, geschweige denn Freundschaft angesponnen. Man erwies ihm als Befehlshaber Gehorsam, Achtung, ja Dankbarkeit, doch er und die Leute vom Musa Dagh, das war zweierlei: Jetzt aber wich man ihm geradezu aus, selbst Aram Tomasian, der sonst bei jeder Gelegenheit ein Gespräch mit ihm gesucht hatte. Er bemerkte, daß rechts und links von seiner Schlafstätte in der Nordstellung die Nachbarn ihre Lager weiterrückten. Oberflächlich genommen lag die Erklärung darin, daß man in Gabriel Bagradian, der täglich eine Stunde und auch mehr am Krankenbett seiner Frau verbrachte, einen Träger der Ansteckung fürchtete. Doch hinter diesem äußeren Grunde verbargen sich weit verwickeltere Regungen. Gabriel Bagradian war der Mann, den ein Unheil getroffen hatte und von dem man ahnte, daß ihn ein viel härteres Unheil noch treffen werde. Die allmenschliche Angst vor einem Unheilbedrohten zog den vereinsamenden Bannkreis um ihn.
    Was die Epidemie im Lager anbetrifft, so war es zum größeren Teil dem günstigen Wetter, zum kleineren Teil Bedros Hekim zu danken, daß sie ihre schleichende, doch begrenzte Form nicht überschritten hatte. Von hundertunddrei erkrankten Personen waren bisher vierundzwanzig gestorben. Der Führerrat hatte dem Arzt eine Sanitätskommission beigestellt, zu der auch Pastor Tomasian gehörte. Diese Behörde inspizierte täglich einmal die ganze Stadtmulde, Hütte für Hütte. Wurde irgendwo ein Bewohner mit den leisesten Anzeichen fiebrischen Unwohlseins angetroffen, mußte er seine Decken und Kissen sogleich zusammenpacken und sich in das Epidemie-Wäldchen, das Infektions-Spital des Lagers, begeben. Der Aufenthalt in diesem schattigen Gehölz war übrigens für die Kranken mild und angenehm. Ein Regen freilich hätte alles grausam verändert. Doch dem Unwetter des ersten Tages war, Gott sei es gedankt, bisher kein zweites nachgefolgt, was im Hinblick auf den syrischen August zwar eine Gunst, aber kein Wunder genannt werden darf.
    Bedros Altouni kam auf seinem Reittier zweimal im Tag zu Juliette Bagradian. Er wunderte sich darüber, daß die Krankheit bei ihr nicht den gewohnten Verlauf nahm. Die Krise schien sehr lange auf sich warten zu lassen. Das Fieber war nach dem ersten Anfall etwas gesunken, ohne daß die Kranke jedoch zu Bewußtsein gekommen wäre. Dabei lag sie nicht wie die anderen in tiefer Ohnmacht oder in phantasierender Erregung, sondern in einer Art von abgründig

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